„Ein sportliches Tsushima“. Deutschland gegen Russland 1912

Olympiamannschaft Russland 1912

Russlands Olympiamannschaft 1912. Auf dem Platz stehen (von links): Lew Faworski, Pjotr Sokolow, Fjodor Rimscha, Alexei Uwerski, Nikita Chromow, Michail Jakowlew, Michail Smirnow, Grigori Nikitin, Wasili Butusow (Kapitän), Wasili Schitarew, Sergei Filippow. Quelle: The Swedish Olympic Committee (Hg.): The Fifth Olympiad. The Official Report of the Olympic Games of Stockholm 1912, S.496.

Stockholm 1912. Bei den fünften Olympischen Spielen der Neuzeit feiern Russlands Fußballer eine Premiere: Erstmals treten sie zu einem offiziellen Länderspiel an. Nachdem die russische Auswahl im Achtelfinale ein Freilos gezogen hatte, trifft sie in ihrem ersten Match auf Finnland – und verliert nach einem „hartnäckigen Duell“, wie es die Petersburger Zeitung nennt, mit 1:2.(1) Ausgerechnet gegen Finnland, das autonome Großfürstentum innerhalb des Russischen Kaiserreichs, das gegen den Willen Russlands als eigene Nation bei Olympia antreten durfte.(2) Die wahre Schmach jedoch folgt knapp 30 Stunden später gegen Deutschland.

Null zu Sechzehn: Das Debakel von Stockholm

In der Trostrunde des Olympischen Fußballturniers müssen die russischen Kicker am 1. Juli 1912 gegen die ebenfalls in der Hauptrunde (an Österreich) gescheiterte deutsche Auswahl antreten. Etwa 2.000 Zuschauer (1.405 haben Eintritt gezahlt) sind an diesem kühlen, wolkenverhangenen Montag im Råsundastadion. Sie erleben ein Debakel der russischen Olympia-Auswahl, die mit 0:16 untergeht. Allein der deutsche Mittelstürmer Gottfried Fuchs erzielt zehn Tore.

Der offizielle Bericht der Olympischen Spiele 1912 in Stockholm berichtet später von einer allgemeinen Überforderung der russischen Mannschaft und einem schlechten Torhüter:

„Deutschland schickte in diesem Match ein nahezu völlig neues Team aufs Feld, das wahrscheinlich kaum besser war als jenes, das gegen Österreich verloren hatte. Natürlich muss die Tatsache berücksichtigt werden, dass Russland keinerlei ernsthaften Widerstand leisten konnte, so dass die schnellen, schlagfertigen deutschen Stürmer die russische Abwehr mit der gleichen Leichtigkeit durchdrangen wie die Nadeln eines Segelmachers das Tuch.

Eine Spielbeschreibung würde zu einer etwas ermüdenden Aufzählung der Tore Deutschlands führen, das nicht weniger als acht in jeder Halbzeit erzielte. Die russische Verteidigung wurde unaufhörlich von den eigenen Stürmern verstärkt, die selten oder nie den Ball von ihren Läufern erhielten und die daher auf sich allein gestellt waren, einen Angriff vorzubereiten.

Fuchs, Förderer und Oberle machten abwechselnd die Tore für ihr Team. Wären sie jedoch auf einen erstklassigen Torwart gestoßen, hätte sich die Anzahl der Tore gegen die Russen verringert, da viele Bälle, die den Weg ins Netz fanden, aus einer Distanz von 20 oder 25 Metern geschossen wurden.“(3)

Doch ist das katastrophale Ergebnis wirklich nur auf die mangelnde Leistung des russischen Torhüters zurückzuführen? In der deutschen Presse wird der russischen Mannschaft bescheinigt, dass sie zwar durchaus eifrig, ausdauernd und technisch passabel gespielt, es ihr jedoch an internationaler Erfahrung gemangelt habe. Dadurch habe die deutsche Stürmerreihe ihr Angriffsspiel von Anfang an planmäßig aufziehen und sich in den letzten 20 Minuten des Spiels mit wenig Mühe sogar auf die bloße Verteidigung des eigenen Tores verlegen können.(4)

In Russland hingegen findet man eine andere Erklärung. Dort wird die bittere Niederlage auf die Konkurrenz zwischen den Petersburger und Moskauer Fußballligen und ihren Mäzenen zurückgeführt. Russlands Olympia-Auswahl ist nach Proporz aus Spielern beider Städte zusammengestellt.(5) Kicker anderer russischer Städte werden völlig außer Acht gelassen. So fährt ein nicht eingespieltes Team, dessen Spieler sich kaum kennen, nach Stockholm.(6) Wassili Schitarew, Russlands halblinker Stürmer vom ZKS Moskau, erinnert sich später:

„Auf der internationalen Fußballbühne war die Mannschaft Russlands noch ein Neuling. Doch das war halb so schlimm. Das Unglück bestand vielmehr darin, dass zwischen Petersburg und Moskau richtige Kämpfe entbrannten, als es darum ging, die Mannschaft für Olympia zusammenzustellen. Die verantwortlichen Funktionäre der Fußballligen beider Städte versuchten, möglichst viele ‚eigene‘ Spieler in der Nationalelf unterzubringen. In den Ausscheidungsspielen hatte sich gezeigt, dass Moskau im Vorteil war, aber dies führte zu nichts. Sportliche Interessen wurden zur Seite geschoben und es begann ein wahres Feilschen.“(7)

Abrechnung der Presse: „Totale Niederlage“

Russlands Presse fällt nach der Schmach gegen Deutschland ein vernichtendes Urteil über den Auftritt der russischen Fußballer:

„Unsere besten Spieler traten überhaupt nicht in Erscheinung. Der Ball lief an ihnen vorbei, sie wurden schwindlig gespielt und vermochten es nicht, dem Gegner den Ball abzunehmen oder seine Pässe zu stören. Hier war besonders deutlich zu sehen, wie wichtig das Laufen im Fußball ist. Unsere Verteidiger konnten nicht einen enteilten Stürmer einholen, nicht einen Pass abfangen, und die Tore fielen eines nach dem anderen. […] Torhüter Faworski wehrte nicht einen hohen Ball ab – es war, als ob er gar nicht im Tor stünde. […] Vergleicht man das russische Team und die ausländischen, hat sich gezeigt: Wir sind noch Kinder im Fußball“.(8)

Zu einer politischen Generalabrechnung holt die Petersburger Zeitschrift K Sportu (dt.: Auf zum Sport) aus. Unter der Überschrift „Ein sportliches Tsushima“ heißt es in Anspielung auf Russlands vernichtende Niederlage in der Seeschlacht gegen Japan im Jahre 1905 zum Auftritt der russischen Olympioniken:

„Die vollständige Niederlage der russischen Sportler im Ausland […] hat unsere Gesellschaft aufgewühlt und erschreckt. […] Wenn eine Großmacht nur einen traurigen 13.-16. Platz belegt, hinter 15 und vor nur drei Ländern, und aus allen Wettbewerben nur drei Punkte gegenüber 115 Punkten von Amerika holt, ist das erneut ein wohl überzeugender Beweis für unsere Hilf- und Ratlosigkeit, die selbst für die eingefleischtesten Pessimisten etwas unerwartet kam. […] Am bedrohlichsten und unangenehmsten erscheint uns die totale Niederlage unserer Fußballer. Dieses Spiel erfordert – wie kein anderes – eiserne Disziplin, Selbstbeherrschung, manchmal eine sehr präzise Berechnung und die Fähigkeit, sich schnell zu orientieren, jede Lage zu meistern und einen Ausweg zu finden. Zwei Mannschaften gegeneinander – das sind zwei kleine Armeen gegeneinander. Volk gegen Volk. Jede Mannschaft verkörpert den Staat, in ihr konzentriert sich Macht und Stärke eines Volkes, der markante und lebendige Charakter der ganzen Nation. […] Es hat sich erwiesen, dass wir schlechter sind als alle anderen.“(9)

Auch das liberale Oppositionsblatt Utro Rossii (dt.: Morgen Russlands) nimmt das schlechte Abschneiden der russischen Kicker zum Anlass für eine umfassende Abrechnung mit dem Russischen Kaiserreich. In der Niederlage der Fußballer zeige sich erneut: Das zaristische System sei nicht in der Lage, das gewaltige Reich im Ausland erfolgreich und ruhmreich zu vertreten. Es sei verrottet und müsse durch die Herrschaft des Bürgertums unter Führung der Unternehmer ersetzt werden.(10)

Spielerschicksale zwischen Krieg und Terror

Das harsche Echo der Presse auf das sportliche Abschneiden in Stockholm verdeutlicht die düstere Stimmung im Russischen Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Jener bildet den Auftakt eines „Zeitalters der Extreme“, wie der Historiker Eric Hobsbawm das 20. Jahrhundert nennt, das die Lebensentwürfe vieler Menschen durcheinanderbringt. Auch die Biografien der russischen Fußballer, die in Stockholm jene schwarze Stunde auf dem Platz erlebten, nehmen ungeahnte, teils dramatische Wendungen.

Grigori Nikitin, halblinker Stürmer vom St. Petersburger Klub der Sportfreunde (Sport), fällt im Winter 1917 an der Front.(11) Drei weitere Spieler der Olympia-Auswahl (Fjodor Rimscha, Aleksei Uwerski und Michail Jakowlew) kommen 1942 während der Blockade Leningrads ums Leben. Nikita Chromow stirbt aus nicht näher bekannten Gründen 1934 in Rostow am Don.(12) Alle anderen beteiligten Fußballer überleben Weltkriege und den Stalinschen Terror – wenn auch auf mitunter abenteuerliche Weise.

Schicksalhaft mit den Deutschen verbunden bleibt das Leben von Wassili Butusow, Kapitän der russischen Olympia-Auswahl und Schütze des ersten russischen Länderspieltors. Als Kradschütze der Kaiserlich Russischen Armee gerät Butusow im April 1915 an der galizischen Front zeitweise in deutsche Kriegsgefangenschaft. Gut ein Vierteljahrhundert später, als die Wehrmacht 1941 beginnt, seine Heimatstadt Leningrad zu belagern, wird Butusow erneut von deutschen Soldaten gefangen genommen. Eine Tortur durch deutsche Kriegsgefangenenlager beginnt, bis er 1945 in Nürnberg befreit wird. Zurück in der Heimat droht ihm als angeblichen Vaterlandsverräter die Zwangsarbeit im Gulag. Nur dank der Hilfe seines jüngeren Bruders Michail – ebenfalls ein bekannter Fußballer – entgeht er dem sowjetischen Arbeitslager. Schon Jahre zuvor war Butusow in das Räderwerk der Stalinschen Säuberungen geraten, als er Anfang der 1930er Jahre im Zuge eines Schauprozesses gegen Wirtschaftswissenschaftler und Ingenieure verhaftet worden war und fast ein Jahr in Haft verbrachte.(13)

Abenteuerlich ist auch das weitere Leben des Außenverteidigers Petr Sokolow, der vor dem Ersten Weltkrieg wie Wassili Butusow beim Sportklub Unitas in St. Petersburg spielte. Als die Bolschewiki 1917 in Petrograd (St. Petersburg) die Macht übernehmen, schließt sich Sokolow einer Aufklärungseinheit der Weißen Garde an, die im Russischen Bürgerkrieg (1918-1922) gegen die Bolschewiki kämpft. Von der finnisch-sowjetischen Grenze aus – keine 50 Kilometer von Petrograd entfernt – betätigt er sich bis in die 1920er Jahre hinein als Spion für den britischen Auslandsgeheimdienst SIS. Und als 1939 der finnisch-sowjetische Krieg beginnt, stellt sich Sokolow – inzwischen Staatsbürger Finnlands – in den Dienst der finnischen Aufklärung. „Achtung, Achtung – hier spricht Finnland!“: Mit tiefer Bassstimme verkündet er im Radio die neuesten Nachrichten von der Front auf Russisch. Er kooperiert auch mit dem militärischen Geheimdienst der Wehrmacht. Während sein ehemaliger Mitspieler Wassili Butusow die deutschen Kriegsgefangenenlager durchläuft, macht sich Sokolow bereit, an der Seite der Wehrmacht nach einer Eroberung Leningrads (St. Petersburg, Petrograd) die Archive des sowjetischen Geheimdienstes zu sichern. Doch dazu kommt es nicht. Nach Kriegsende verlässt Sokolow, der in der Sowjetunion als Staatsfeind gesucht wird, Finnland. In der Nähe von Stockholm baut er sich als Paul Sahlin ein neues Leben auf. Dort stirbt er 1971 – nur wenige Kilometer von jenem Ort entfernt, an dem er einst mit der Olympia-Auswahl des kaiserlichen Russlands 0:16 gegen Deutschland verloren hatte.(14)

Bis heute hat die Begegnung zwischen Russland und Deutschland bei den Olympischen Spielen 1912 einen festen Platz in den Fußballannalen: Nie hat eine russische Auswahl höher verloren, und nie eine deutsche Nationalmannschaft höher gewonnen. Ein Wort noch zu Deutschlands Stürmerstar Gottfried Fuchs. Der zehnfache Torschütze von Stockholm muss ein Vierteljahrhundert später aus Deutschland fliehen. Von den Nazis als Jude verfolgt, emigriert er 1937 über die Schweiz nach Frankreich. In letzter Minute kann er von dort aus 1940 nach Kanada ausreisen. Nach dem Krieg kehrt Godfrey E. Fochs, wie er sich nun nennt, noch einige Male in seine Heimat zurück. Anerkennung aber findet er im deutschen Fußball zu Lebzeiten keine mehr.(15)

Anmerkungen

1 Vgl. Aleksandr Savin: Moskva futbol’naja. Polnaja istorija v licach, sobytijach, cifrach i faktach [Moskauer Fußball. Vollständige Geschichte in Personen, Ereignissen, Ziffern und Fakten]. Moskva 2016, S. 143.

2 Vgl. Ansgar Molzberger: Die Olympischen Spiele 1912 in Stockholm – „Vaterländische“ Spiele als Durchbruch für die Olympische Bewegung. Köln 2010, S. 195ff.

3 The Swedish Olympic Committee (Hg.): The Fifth Olympiad. The Official Report of the Olympic Games of Stockholm 1912. Stockholm 1913, S. 496f. [Übersetzung des Autors].

4 Vgl. Jürgen Buschmann, Karl Lennartz: Die Olympischen Fußballturniere. Band 2. Das erste große Turnier in Stockholm 1912 dazu Berlin 1916. Kassel 2001. S. 78f.

5 Vgl. Jurij Koršak: Staryj, staryj futbol [Alter, alter Fußball]. Moskva 1975, S. 56-65.

6 N“čto o posylk“ futbol’noj komandy v“ Stokgol’m“ [Einiges über die Entsendung der Fußballmannschaft nach Stockholm], in: K“ sportu!, № 27, 1912, S. 3 [Übersetzung des Autors].

7 http://sport-history.ru/books/item/f00/s00/z0000014/st019.shtml

8 http://www.rusteam.permian.ru/history/1912_02.html

9 Sportivnaja Cusima [Ein sportliches Tsushima], in: K“ sportu!, № 32, 1912, zitiert bei: Aleksandr Savin: Moskva futbol’naja. Polnaja istorija v licach, sobytijach, cifrach i faktach [Moskauer Fußball. Vollständige Geschichte in Personen, Ereignissen, Ziffern und Fakten]. Moskva 2016, S. 144f.

10 Vgl. Dittmar Dahlmann: Vom Pausenfüller zum Massensport. Der Fußballsport in Rußland von den 1980er Jahren bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 1914, in: Dittmar Dahlmann (Hg.): Überall ist der Ball rund : zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa, Essen 2006, S. 15-40, hier: S. 29.

11 Vgl. Jurij Lukosjak: Istorija peterburgskogo futbola. Kto est‘ kto v peterburgskom futbole [Geschichte des Petersburger Fußballs. Wer ist wer im Petersburger Fußball]. Sankt-Peterburg 2011, S. 74.

12 http://www.rusteam.permian.ru/players/khromov.html

13 Vgl. Jurij Lukosjak: Istorija peterburgskogo futbola. Kto est‘ kto v peterburgskom futbole [Geschichte des Petersburger Fußballs. Wer ist wer im Petersburger Fußball]. Sankt-Peterburg 2011, S. 20-22.

14 Vgl. Jurij Lukosjak: Istorija peterburgskogo futbola. Kto est‘ kto v peterburgskom futbole [Geschichte des Petersburger Fußballs. Wer ist wer im Petersburger Fußball]. Sankt-Peterburg 2011, S. 90–92; Oleg Matveev: Tajnye Igry Petra Sokolova [Die geheimen Spiele des Petr Sokolov], in: Eženedel’nik «Futbol», № 41, 1998, online: http://www.rusteam.permian.ru/players/sokolov_petr.html.

15 Vgl. Werner Skrentny: Gottfried Fuchs – Nationalspieler mit Torrekord, in: Dietrich Schulze-Marmeling (Hg.): Davidstern und Lederball. Die Geschichte der Juden im deutschen und internationalen Fußball. Göttingen. S. 123–130.

Erschienen in: Stephan Felsberg, Tim Köhler, Martin Brand (Hrsg.): Russkij Futbol. Ein Lesebuch, Verlag Die Werkstatt, Göttingen, S. 38-45, 2017.

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