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Russland, Ukraine, Belarus – Varianten des europäischen Wohlfahrtsstaats?

In meiner Doktorarbeit beschäftige ich mich mit der Sozialpolitik in Russland, Belarus und der Ukraine, den Eigenheiten der jeweiligen nationalen Arrangements der Wohlfahrtsproduktion in diesen Ländern und der Frage, ob sich nach 1991 in Osteuropa Varianten des europäischen Wohlfahrtsstaatsmodells herausgebildet haben. Als theoretische Grundlage dient der anspruchsvolle Wohlfahrtsstaatsbegriff des Bielefelder Soziologen Franz-Xaver Kaufmann. Ursprünglich war auch noch geplant zu ergründen, welche Bedeutung die Diffusion globaler Sozialpolitik für die wohlfahrtsstaatliche Entwicklung in Osteuropa hat. Dies musste jedoch aufgrund des ausufernden Umfangs gestrichen werden.

Problem- und Fragestellung

Mit dem Ende der Sowjetunion 1991 und der Unabhängigkeit ihrer Unionsrepubliken haben Russland, die Ukraine und Belarus einen rasanten wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Wandel durchlaufen. Infolge dieser allumfassenden Transformation wandelte sich auch das Arrangement der Wohlfahrtsproduktion, sprich die Konfiguration zwischen staatlichen, marktlichen, zivilgesellschaftlichen und familiären Formen bei der Herstellung gesellschaftlicher Wohlfahrt. Die Arbeitsbeziehungen mussten neu gestaltet, die Systeme der sozialen Sicherung umgebaut und die Institutionen sozialer Dienstleistungen von Grund auf reformiert werden. Trotz ähnlicher Ausgangslagen verliefen dieser Wandel in Russland, der Ukraine und Belarus recht unterschiedlich.

Diese Problemstellung führt mich zu den zentralen Fragen meiner Doktorarbeit. Zunächst interessiert mich, wie sich das institutionelle Arrangement der Wohlfahrtsproduktion in Russland, der Ukraine und Belarus in den letzten gut 20 Jahren entwickelt hat. Insbesondere kommt es mir darauf an, die Idiosynkrasien, also den Eigensinn und die Eigenheiten dieser institutionellen Arrangements der Wohlfahrtsproduktion in den jeweiligen Nationalstaaten herauszuarbeiten. Des Weiteren untersuche ich die Frage, ob Russland, die Ukraine und Belarus neue Varianten des europäischen Wohlfahrtsstaatsmodells sind. Dabei orientiere ich mich an der Untersuchung „Varianten des Wohlfahrtsstaats“ von Franz-Xaver Kaufmann (2003), in der dieser die Varianten des europäischen Wohlfahrtsstaats gegen liberale rechtstaatlich-marktwirtschaftliche Gesellschaften auf der einen Seite und sozialistische Gesellschaften auf der anderen Seite abgrenzt. An dieser Stelle scheint mir eine genauere Erörterung des verwendeten Wohlfahrtsstaatsbegriffs angebracht.

Theoretische Grundlagen

Es läge nahe, in einer international vergleichenden Arbeit zur Wohlfahrtsstaatlichkeit auf die Typologisierung des dänischen Soziologen Gøsta Esping-Andersen (1990) zurückzugreifen, da diese wie keine andere die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung der letzten zwei Jahrzehnte prägte. Auf die Methode der Typologisierung verzichte ich allerdings. Denn trotz ungezählter Versuche, eine Typologisierung für die Staaten in Mittelost- und Osteuropa zu entwickeln, ist bisher keine allgemein akzeptierte Einordnung der Region in die Wohlfahrtswelten von Esping-Andersen gelungen. Eine weitere Ergänzung dieser Typologisierungsforschung erscheint mir wenig sinnvoll.

Anders als Esping-Andersen stellt Franz-Xaver Kaufmann nicht das Kriterium der Dekommodifizierung ins Zentrum seiner Theorie vom Wohlfahrtsstaat, sondern das Leitbild eines soziale Teilhabe gewährenden politischen Gemeinwesens. In knappster Form lässt sich Kaufmanns Begriff vom Wohlfahrtsstaat definieren als Gesellschaft, in welcher der Staat eine marktwirtschaftliche Produktion und Verteilung gewährleistet und zugleich eine explizite Verantwortung für das Wohlergehen seiner Bürger übernimmt, was einhergeht mit individuellen sozialen Rechtsansprüchen, einer soziokulturellen Legitimität staatlicher Sozialpolitik und einem entsprechend ausgestatteten Wohlfahrts- oder Sozialsektor.

Insofern bilden drei Elemente das Gerüst des Wohlfahrtsstaatsverständnis im Sinne Kaufmanns: Erstens geht es um den Leistungszusammenhang, also welche sozialen Leistungen wie erbracht werden. Zweitens geht es um den Anerkennungszusammenhang, also wie soziale Probleme und Problemgruppen definiert und die staatliche Verantwortung für die individuelle Wohlfahrt aller Bürger anerkannt werden. Drittens geht es um den Makrokontext, also die Gestaltung des Wirtschaftssystems und das Verhältnis von Staat und Gesellschaft.

Fallauswahl und methodisches Vorgehen

Weshalb wurden die Länder Russland, Ukraine und Belarus für die Untersuchung der Wohlfahrtsstaatlichkeit in Osteuropa ausgewählt? Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Erstens, ist die Region Osteuropa jenseits der EU im Vergleich zu den mittelost- und osteuropäischen EU-Mitgliedsländern in der wissenschaftlichen Literatur zur Sozialpolitik stark unterrepräsentiert. Zweitens, alle drei Länder wiesen 1991 ein fast gleiches sozialpolitisches Erbe aus, weshalb Idiosynkrasien der nationalen Arrangements der Wohlfahrtsproduktion auf andere Faktoren als Pfadabhängigkeit zurückgeführt werden müssen. Drittens, während die mittelost- und osteuropäischen EU-Mitglieder durch das EU-Beitrittsverfahren auf den Weg der Wohlfahrtsstaatlichkeit gebracht wurden, fehlt dieser EU-Hebel der Konditionierung in der Fallauswahl. Dies macht die Frage interessant, ob sich in diesen Ländern trotzdem eine Wohlfahrtsstaatlichkeit nach europäischem Vorbild herausgebildet hat.

Um die Fragestellung zu beantworten wird zunächst aus der Theorie des Wohlfahrtsstaats von Kaufmann eine Analyserahmen für die empirische Arbeit abgeleitet. Die Daten für die Empirie werden vornehmlich auf drei Wegen gewonnen. Erstens, durch Experteninterviews mit Wissenschaftlern aus den jeweiligen Ländern und Akteuren aus dem Feld der Sozialpolitik. Zweitens, durch Dokumentenanalyse einschlägiger nationaler Dokumente zur Sozialpolitik. Drittens, mit Hilfe von Sekundärliteratur, neben deutsch- und englischsprachiger insbesondere auch sozialpolitische Sekundärliteratur aus den jeweiligen Ländern.

Veröffentlichungen