Von der Radrennbahn auf den Roten Platz

Anfänge des russischen Fußballs

Fußball zu Beginn des 20. Jahrhunderts in St. Petersburg, Quelle: Archiv Juri Lukosjak

Es ist eines der ungewöhnlichsten Spiele der Fußballgeschichte: Am 6. Juli 1936 wird ein 9.000 Quadratmeter großer grüner Filzteppich auf dem Roten Platz in Moskau ausgerollt. Zwischen Kremlmauer und dem Warenhaus GUM, vis-à-vis der Basilius-Kathedrale und dem Staatlichen Historischen Museum soll ein Schaukampf stattfinden. Die Tribüne des Lenin- Mausoleums, von der sonst führende Politiker Militärparaden abnehmen, wird zum Zuschauerrang. Dort sitzt Josef Stalin und sieht das erste Fußballspiel seines Lebens.

Spartaks Spektakel

Ursprünglich sollte Spartak Moskau gegen Dynamo Moskau antreten. Doch Dynamo – als Verein der Geheimpolizei NKWD unterstellt – hat in letzter Minute abgesagt. Daher werden aus dem Kader von Spartak zwei Mannschaften zu je sieben Spieler gebildet, die gegeneinander kicken. Das Match wird zum Spektakel, die Tore sind einstudiert und fallen in allen Varianten: per Kopf und mit der Ferse, aus der Luft und im Fallen, per Corner und Elfmeter. Sollte Stalin seine Missbilligung kundtun, würde das Spiel auf ein Zeichen von der Tribüne abgebrochen werden. Doch statt der geplanten halben Stunde dauert die Partie 43 Minuten. Am Ende steht es 4:3 für die erste Mannschaft von Spartak.

Das Publikum soll begeistert gewesen sein, und selbst Stalin habe Gefallen am Fußball gefunden. Jedenfalls berichtet das Spartak-Spieler Nikolai Starostin, der selbst an der Begegnung teilnahm, in seinen Memoiren. Allerdings hat sich Stalin danach nie wieder bei einem Fußballspiel sehen lassen. Die Begegnung auf dem Roten Platz ist der spektakuläre Höhepunkt in der bisherigen Geschichte des russischen Fußballs, die ihren Anfang gut vier Jahrzehnte zuvor auf einer Pferde- und Radrennbahn in Sankt Petersburg genommen hatte.

Allerdings etwas holprig: Das wohl erste öffentliche Fußballspiel in Russland findet am 24. September 1893 in der damaligen Hauptstadt während einer Pause bei den Wettkämpfen der Petersburger Gesellschaft der Fahrradfreunde statt. Im Publikum ist das Gelächter groß. Als Wochen später erneut eine Pause mit Fußball überbrückt werden soll, schreien die verärgerten Zuschauer: „Es reicht!“ Daraufhin verschwindet das seltsame Spiel wieder aus dem Programm.

Briten gegen Russen

Als offizielle Geburtsstunde des russischen Fußballs gilt eine Begegnung vom 24. Oktober 1897 zwischen dem Sankt-Peterburgskij Kruschok Ljubitelej Sporta, dem Sankt Petersburger Klub der Sportfreunde oder kurz: Sport, und dem Wassileostrowskij Kruschok Futbolistow, dem Fußballklub Wassiljewski-Insel. Die Partie ist das erste Fußballspiel in Russland, das zuvor in der Sportpresse angekündigt worden ist. Es gibt aber noch einen weiteren Grund, es als Anfang des russischen Fußballs zu definieren: Während bis dato vor allem in Sankt Petersburg beheimatete Briten Fußball spielen, kicken im 1897 gegründeten Sport überwiegend Russen. Die Sportfreunde verlieren 0:6, in der Zeitung Peterburgskij Listok heißt es anschließend dennoch hoffnungsvoll: „Noch ein bisschen Training und unsere Russen werden sich aufraffen und dann wahrscheinlich die Engländer schlagen.“

Die Konkurrenz zwischen Briten und Russen prägt auch die Stadtmeisterschaft in Sankt Petersburg, die auf Betreiben einiger Briten ab dem Sommer 1901 ausgetragen wird. Als aber 1908 Sport den Bewerb erstmals gewinnt, eskalieren die Konflikte: Die drei großen britischen Vereine verlassen die Meisterschaft und gründen unter dem Namen Rossijskoe Obschtschestwo Futbolistow-Ljubitelej, der Russischen Gesellschaft der Fußballfreunde, ihre eigene Liga.

Nicht nur in der Hauptstadt, auch im übrigen Kaiserreich organisiert sich der Fußball. Nachdem in Moskau seit 1909 eine Stadtmeisterschaft ausgetragen wird, gründen die Funktionäre beider Städte schließlich 1912 den Allrussischen Fußballverband. Im selben Jahr wird die erste russische Meisterschaft ausgespielt. Sieger wird die Stadtauswahl von Sankt Petersburg.

Olympische Schmach

Olympiamannschaft Russland 1912

Russlands Olympiamannschaft 1912, Quelle: The Swedish Olympic Committee (Hg.): The Fifth Olympiad. The Official Report of the Olympic Games of Stockholm 1912, S.496.

Im Sommer 1912 finden in Stockholm die Olympischen Spiele statt. Sie werden zur Bühne für Russlands erstes offizielles Länderspiel. Zuvor allerdings gibt es einen erbitterten Streit darüber, ob die Moskauer oder die Petersburger Stadtauswahl nach Schweden fahren darf. Am Ende wird eine Mannschaft mit Spielern beider Städte auf die Reise geschickt. Im ersten Match trifft das nicht eingespielte Team auf Finnland – und verliert nach einem „hartnäckigen Duell“, wie es die Peterburgskaja Gazeta nennt, 1:2. Ausgerechnet gegen Finnland, das autonome Großfürstentum innerhalb des Kaiserreichs, das gegen den Willen Russlands als eigene Nation bei Olympia antreten darf.

Zur wirklichen Schmach aber wird das zweite Länderspiel. Im Spiel gegen Deutschland haben die russischen Kicker den schnellen, schlagkräftigen Stürmern des Gegners nichts entgegenzusetzen. Sie gehen 0:16 unter – bis heute die höchste Niederlage der Nationalmannschaft. In der heimischen Presse ist das Entsetzen groß. Sie schreibt von einer „totalen Niederlage“ und macht das „verrottete zaristische System“ für die Blamage verantwortlich. Dennoch findet das Kräftemessen mit anderen Ländern bei den folgenden Heimspielen großen Publikumszuspruch. So sehen 1913 in Moskau jeweils etwa 8.000 Zuschauer die Niederlage gegen Schweden und das Unentschieden gegen Norwegen. Kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs ist der Fußball auf dem Weg zum Massensport.

Zerschlagung des bürgerlichen Sports

Erster Weltkrieg, Februar- und Oktoberrevolution und der anschließende Bürgerkrieg bringen die alte Welt des Kaiserreichs zum Einsturz. Zwischen 1914 und 1922 sterben Millionen Menschen durch Kampfhandlungen, Terror, Hunger und Seuchen. Kaum ein Leben bleibt, wie es einmal war. Fußball wird auch während des Bürgerkriegs gespielt, doch der bisherige Vereinsfußball verliert seine Basis: Adlige, Fabrikanten und Mäzene werden enteignet und entmachtet. Die westeuropäischen Facharbeiter und Unternehmer, die den Fußball maßgeblich vorangetrieben haben, verlassen das Land. Im Mai 1918 werden die existierenden Sportvereine unter staatliche Kontrolle gestellt, das endgültige Ende des vorrevolutionären Fußballs besiegelt ein Dekret des Allunionskomitees für Körperkultur und Sport im März 1924, mit dem die bürgerlichen Klubs, Vereinigungen und Verbände aufgelöst werden.

Zunächst nehmen Arbeiter, die vom Land in die Städte strömen, und Angestellte der neuen staatlichen und städtischen Behörden die Organisation des Fußballs in die Hände. Das Spiel erobert in den frühen 1920er Jahren öffentliche Plätze, Hinterhöfe und Wiesen – noch bevor sich die neuen Strukturen des sowjetischen Fußballs herausbilden. Im Jahr 1923 schließlich wird der Fußball verpflichtend in das Sportprogramm der Roten Armee und der militärischen Lehranstalten aufgenommen. Der Parteikongress der Kommunistischen Partei beschließt zugleich, den Sport nach dem Produktionsprinzip zu organisieren: Sportgruppen werden Betrieben und staatlichen Organen angeschlossen, Jugendsportgruppen dem Jugendverband Komsomol unterstellt.

Nicht zufällig gerät der Fußball ins Visier der Politik, denn seine Wirkung auf die Massen bleibt der Parteiführung nicht verborgen. So entstehen die noch heute bekannten Klubs: Der Volkskommissar für das Transportwesen der Eisenbahnerklubs wird Patron der Lokomotiv-Mannschaften, die Dynamo-Teams unterstehen dem Chef der Geheimpolizei, und die Rote Armee benennt ihre Sportvereine nach der Kommandozentrale Zentrales Haus der Roten Armee (ZDKA), später heißen sie ZSKA – Zentraler Sportklub der Armee. Seit Ende des Bürgerkriegs werden jeden Sommer auch wieder Meisterschaften ausgetragen, allerdings nur auf städtischer Ebene. Gesamtnationale Meisterschaften finden bis 1936 nur unregelmäßig statt.

Keine Gegner

International ist die neue Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken diplomatisch wie sportlich isoliert. Die Sowjetunion nimmt weder an Olympischen Spielen teil, noch ist sie Mitglied der FIFA. Daher bleiben nur Spiele gegen ausländische Arbeiterteams, um sich international zu messen – und Begegnungen gegen die türkische Nationalmannschaft. Denn die Türkei widersetzt sich den Statuten des Weltverbands, keine Länderspiele gegen Nichtmitglieder auszutragen. Zwischen 1924 und 1936 kommt es zu zahlreichen Begegnungen in der Sowjetunion und der Türkei. Sie stehen im Zeichen der Annäherung der beiden noch jungen Staaten.

Im Sommer 1927 reist das sowjetische Nationalteam für eine Tournee gegen die Auswahlmannschaft der Sozialistischen Arbeiter-Sport-Internationale nach Deutschland. Sie gewinnt beide Spiele deutlich, und der Kicker attestiert einigen sowjetischen Spielern „höchste internationale Klasse“. Weitere Begegnungen gegen städtische Auswahlmannschaften des deutschen und österreichischen Arbeitersports folgen. Doch aufgrund von Spannungen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten innerhalb der Arbeitersportbewegung bricht der Kontakt zur Sowjetunion anschließend ab.

Brennende Hände

Im April 1935 beschließt der Vorsitzende des Jugendverbands Komsomol, Alexander Kossarew, die Sportgesellschaft Spartak zu gründen. Ihr sollen vor allem junge Sportler aus den Betrieben des Textil- und Nahrungsmittelgewerbes angehören. Zu den Mitgründern gehört Nikolai Starostin, langjähriger Kapitän der Moskauer Stadtauswahl und einer der populärsten Fußballer in der Sowjetunion. Spartak soll ein ziviles Gegengewicht zu den Ver einen des Geheimdienstes und der Roten Armee bilden.

Nur ein Jahr später, im Frühjahr 1936, wird die erste gesamtsowjetische Fußballmeisterschaft ausgetragen, die Dynamo Moskau mit knappem Vorsprung vor Spartak Moskau gewinnt. Welch enorme Popularität der Fußball in der Sowjetunion inzwischen erreicht hat, zeigt sich daran, dass er sich längst auch unter Intellektuellen großer Beliebtheit erfreut. Dmitri Schostakowitsch, einer der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts, entdeckt in diesem Jahr seine Leidenschaft für den Fußball. 1942 zitiert ihn das Time Magazine mit diesen Worten:

„Der Gipfel der Freude ist nicht der Moment, wenn man mit einer Symphonie fertig ist – sondern, wenn du heiser bist vom Rufen, deine Hände vom Klatschen brennen, deine Lippen trocken sind und du einen Schluck von deinem zweiten Bier nimmst, nachdem du mit 90.000 anderen Zuschauern darum gekämpft hast, den Sieg deiner Lieblingsmannschaft zu feiern.“

Das Spiel auf dem Roten Platz im Sommer 1936 ist der Zenit eines neuen Sportkults, der die sowjetische Gesellschaft in den 1930er Jahren erfasst hat. Was nach der Begegnung vor den Augen Stalins folgt, lässt aber auch die willkürliche Gewalt seiner Diktatur erahnen. Kossarew, der diesen Schaukampf organisiert hat, wird 1939 verhaftet und erschossen. Starostin wird – gemeinsam mit seinen drei Brüdern, die ebenfalls bei Spartak spielen – 1942 zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt und in den Gulag geschickt. Er soll Mitglied einer antisowjetischen Gruppe gewesen sein und bourgeoisen Sport propagiert haben. Kossarew und die Brüder Starostin sollen auf persönliche Anordnung von Lawrenti Beria, Chef der Geheimpolizei und Patron von Spartaks Rivalen Dynamo Moskau, verhaftet worden sein.

Erschienen in: Ballesterer Nr. 127 (2017), S. 72-75.

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