Rundbrief 1 vom Freiwilligendienst aus Nishnij Nowgorod

Die Arbeit bei Invatur, beim Grünen Segel und den Soldatenmüttern

Soeben fiel der erste Schnee. Es ist Mitte Oktober, ich sitze in meiner 2-Raumwohnung in Nishnij Nowgorod, in der die Heizung noch immer nicht funktioniert, schaue auf die Zwiebeltürme einer orthodoxen Kirche und mache mir Gedanken über die vergangenen Wochen.

Anderer Dienst im Ausland

Vor genau 3 Monaten in größter Sommerhitze bin ich in die Stadt an der Wolga gekommen, 400 Kilometer oder 7 Zugstunden von Moskau entfernt, um meinen “Anderen Dienst im Ausland” durchzuführen, gemeinsam mit 4 weiteren Deutschen.

Wir werden hier oft als “Freiwillige” bezeichnet, doch so ganz freiwillig ist unser Dienst nicht. Wie jeder junge Mann in Deutschland wurde auch ich zur Musterung zitiert und sollte zum Kriegsdienst gezwungen werden. Dieser Kriegsdienst an der Waffe lies sich noch relativ einfach verhindern, dem Ersatzzwangsdienst “Zivildienst” mit erheblichen Einschränkungen der eigenen Grundrechte aus dem Wege zu gehen, war schon weitaus schwieriger.

Eine der wenigen Möglichkeiten den Zivildienst zu umgehen war, sich für einen “Anderen Dienst im Ausland” vertraglich zu verpflichten. Diese Verpflichtung bedeutet, daß ich zum einen 2 Monate länger als beim Zivildienst dienen und zum anderen diesen Dienst unentgeltlich, das heißt, ohne den sonst fälligen Sold für Kriegs- bzw. Zivildienst, leisten muß.

Erst hier, bei der Entscheidung keinen Zivildienst zu machen und sich auf die Suche nach einer Dienststelle in Rußland zu machen, fängt die “relative Freiwilligkeit” an.

Trotz der augenscheinlichen Nachteile, einen Friedensdienst, wie der “Andere Dienst im Ausland” auch genannt wird, zu leisten, bietet er eine Menge Möglichkeiten, die diese Nachteile mehr als wettmachen.

Mir hilft der Friedensdienst nicht nur die Sprachkenntnisse und das Wissen über Rußland und seine Kulturen zu erweitern, sondern fördert auch ungemein meine Selbständigkeit, da man im fernen Rußland auf vielerlei Probleme stößt, zu deren Lösung ich mich oft auf keinerlei Hilfe verlassen kann.

Auch Vater Staat hat vom Friedensdienst einen Nutzen und dies nicht nur dadurch, daß er Sold und Verwaltungsaufwand spart. Wie der vor einem Jahr initiierte “Petersburger Dialog” (www.petersburgerdialog.de) zeigt, hat Deutschland durchaus ein Interesse an einer Völkerverständigung und einem Kulturaustausch mit Rußland. Diesem Ziel mag man sich auf Staatsbanketten und -empfängen vielleicht nähern, ganz sicher wird es bei unserer unentgeltlichen Arbeit in sozialen Einrichtungen hier in Nishnij Nowgorod erreicht.

Wenn der Friedensdienst schon in Rußland geleistet werden soll, warum ausgerechnet Nishnij Nowgorod, warum nicht eine andere Stadt in diesem großen Land? Diese Frage ist ganz einfach zu beantworten: Jeder, der einen “Anderen Dienst im Ausland” leisten will, muß sich dafür einen privaten Träger suchen, der vom Staat als Träger für den “Anderen Dienst im Ausland” anerkannt ist. Auf meiner Suche nach einem solchen Träger bin ich zufällig auf die “Gesellschaft für Deutsch-Russische Beziehungen Essen e.V.” gestoßen. Dieser Verein pflegt die städtepartnerschaftlichen Beziehungen zwischen Essen und Nishnij Nowgorod und bietet unter anderem auch Arbeitsstellen für Friedensdienstleistende (kurz Friedis) an. Da ich mich bei dieser Gesellschaft verpflichtet habe, meinen Friedensdienst zu leisten, arbeite ich nun in der Millionenstadt an der Wolga.

Wer bin ich?

Nicht der Umstand, daß ich heute in Rußland lebe ist seltsam, aber wie es dazu gekommen ist, hätte vor zwanzig Jahren, als ich im Norden eines deutschen Arbeiter- und Bauernstaates geboren wurde, wohl niemand geglaubt.

Damals waren die Sowjets noch ganz offiziell meine Freunde, von denen ich das Siegen lernen konnte und eine fast unüberwindbare Grenze bewahrte mich vor den kapitalistischen Verbrechern aus dem Westen. Für die NVA war ich bestimmt, nicht für die Bundeswehr, um dem Vaterlande und dem Frieden auf der Welt zu dienen (scheinbar die Aufgabe jedes Soldaten auf dieser Erde).

Wer wäre denn damals auf den Gedanken gekommen, daß meine Mitbürger mir bevor ich überhaupt reif würde, den Umgang mit der Waffe zum Schutze des Sozialismus’ zu erlernen, diesen abschaffen und mir ein neues Vaterland wählen würden? Wer hätte sich weiterhin vorstellen können, daß ich in 2 langen Briefen werde begründen müssen, warum ich nicht die Waffe in die Hand nehmen möchte, um den inzwischen “guten” Westen gegen “das Böse” zu verteidigen? Und wem wäre es in den Sinn gekommen, daß mich anno 2001 keine Armee als Kanonenfutter bekommen würde, sondern ich für eine Organisation aus dem “kapitalistischen Westen” einen Friedensdienst in einem ebenfalls kapitalistischen Rußland leisten würde?
Nishnij Nowgorod und Rustaj

Bevor ich diesen Friedensdienst mit der täglichen Arbeit beginne, heißt es erst einmal Nishnij Nowgorod und seine Umgebung kennenzulernen.

In den ersten zwei Wochen flaniere ich durch die Stadt, gucke mir diese und jenes an und komme zu dem Schluß – diese Stadt gefällt mir nicht.

Das Stadtzentrum bildet die alte Kremlanlage, die auf den Hochufern der beiden Flüße Oka und Wolga liegt. Vom Kreml aus kann der Blick über den Zusammenfluß der Wolga und der Oka hinaus über das weite, flache Land jenseits der Wolga schweifen.

Leider ist dies einer der wenigen schönen Orte in der Stadt, und schon hier im Kreml fängt das an, was mich in der ganzen Stadt stört: Vieles sieht verwahrlost aus. Hinter den Verwaltungsgebäuden in der Kremlanlage wuchern die Brennesseln und liegt der Müll zuhauf herum. Die Verwaltungsgebäude selbst sind in einem so desolaten Zustand, daß sie teilweise abgesperrt werden müssen, damit der Besucher keine vom Dach herunterfallenden Steine auf den Kopf bekommt.

Die oft besungene Schönheit der Wolga zeigt sich nur aus der Ferne betrachtet. Am Ufer dieses längsten Flusses Europas dominiert die Häßlichkeit eines etwa 20 Meter breiten “Betonstrandes”. Nichts lädt hier zum Verweilen und Flanieren ein, weshalb das Wolgaufer bis auf einige Badestellen auch im Sommer ein relativ ruhiges Fleckchen ist.

Selbst nach 3 Monaten hat sich mein Bild von der Stadt nur ein wenig relativiert. Der Müll liegt überall auf den Straßen herum (es sei angemerkt, daß dies kein ausschließliches Phänomen Nishnijs ist) und das Stadtbild wirkt heruntergekommen. Dennoch gibt es schöne Plätze in dieser Stadt, z.B. einige Parkanlagen. Und jetzt, wo der Schnee gefallen ist, bedeckt ein weißer Mantel alle Unansehnlichkeiten und vieles sieht freundlicher aus.

Nach den ersten 2 Eingewöhnungswochen in Nishnij brauche ich etwas Abwechslung und fahre auf ein zweiwöchiges Arbeitslager der Jugendumweltorganisation “Seljonyj Parus” (”Grünes Segel”) nach Rustaj. Wir sind eine Gruppe von etwa 20 bis 25 jungen Leuten aus Frankreich, Belgien, Ungarn, Deutschland und natürlich Rußland, die es nach Rustaj und das umliegende Naturschutzgebiet zieht, um dort zu arbeiten, sich zu erholen und viel über die russische Natur zu lernen.

Rustaj ist eine abgelegene Siedlung, die etwa 100 Kilometer östlich von Nishnij Nowgorod als Holzfällerdorf vor 100 Jahren gegründet wurde. Rings um das 700-Seelen-Dorf befinden sich weite Wälder und undurchdringbare Sümpfe. Nachbardörfer gibt es nicht. Die Verbindung zur Außenwelt wird über einige unbefestigte Sandwege gehalten, die zu der etwa 15 Kilometer entfernten Asphaltstraße führen. Dementsprechend ruhig ist es in Rustaj, denn die Sandwege mit einem PKW zu überwinden ist fast unmöglich (wer es versuchte blieb stecken!). Deshalb fahren im Dorf keine PKW sondern nur zwei oder drei LWK. Unser Bus, der uns aus Nishnij nach Rustaj bringt, zwingt zwar die Sandpiste, am Fluß Kershenez aber gibt er auf. Das Flußbett kann er nicht durchqueren und die alte Brücke für die Schmalspurbahn, die hier früher fuhr, taugt nicht als Übergang zum anderen Flußufer. Den letzten Kilometer zum Dorf legen wir zu Fuß zurück.

Mit elektrischem Strom ist Rustaj versorgt, fließend Wasser gibt es jedoch nicht. Das wird noch wie eh und je unter großer Kraftanstrengung aus den zahlreichen Dorfbrunnen geholt. Ohne fließend Wasser gibt es folglich auch keine bequemen WC’s. Etwas gewöhnungsbedürftig ist deshalb für mich verwöhnten Mitteleuropäer (aber auch für die Großstadtrussen) die Benutzung der Plumpsklos, vor allem die erste Woche mit Durchfall war sehr anstrengend.

Untergebracht sind wir in der Dorfschule, wo wir uns es in Schlafsäcken auf dem Boden der Turnhalle gemütlich machen. Unweit der Turnhalle befindet sich die Schulkantine (stolowaja), die extra für uns auch in den Sommerferien die mitgebrachten Speisen zubereitet. Spaß macht der Gang zur Stolowaja allerdings selten. Denn was uns erwartet ist jedesmal das gleiche: Kascha (Brei) aller Art, Suppe, Makkaroni, Brot und Kompott.

In Rustaj befindet sich das Verwaltungszentrum des staatlichen Naturschutzgebietes “Kershenskij”, das sich östlich des Dorfes erstreckt. Zusammen mit Rachit Chabiboulline, dem Koordinator des “Grünen Segels” und Mitarbeitern des Naturschutzgebietes machen wir uns zu zahlreichen Exkursionen in die Umgebung des Dorfes auf. Von diesen Exkursionen hat sich vor allem ein Ausflug in die nächstgelegene Siedlung Tschernoretsche eingeprägte. Dieses Dörfchen liegt etwa 10 Kilometer von Rustaj entfernt und ist am schnellsten mit einem Marsch durch das fast unberührte Unterholz des Naturschutzgebietes zu erreichen. Hier scheint die Zeit vor 100 Jahren stehengeblieben zu sein. Schätzungsweise nicht mehr als 50 Menschen wohnen in Tschernoretsche in typischen russischen Holzhäusern. Ein kleiner Feldweg führt vom Dorf in den Wald nach Nirgendwo. Im Sonnenschein sitzt ein alter Mann vor seiner Isba (Bauernhütte) und blinzelt mißtrauisch auf den ungewohnten Besuch. Freundlich erzählt er in einem nicht zu verstehenden Russisch und lädt uns schließlich in sein Haus ein, um uns ein typisches Bauernhaus von Innen zu zeigen. Ein durchschnittlicher Mitteleuropäer wird kaum verstehen können, daß man so einfach und komfortlos leben kann und dennoch zufrieden und glücklich ist.

Da unser Lager “Workcamp” – also Arbeitslager heißt, arbeiten wir täglich auch etwa zwei bis drei Stunden (allerdings trifft wohl eher Verb “beschäftigen denn “arbeiten” zu).

Unsere Aufgabe besteht zum einen darin, beim Bau des Besucherzentrums des Naturschutzgebietes zu helfen und zum anderen, den Ort etwas vom herumliegenden Unrat zu befreien. Letzteres scheint hier besonders notwendig zu sein, denn überall rostet alter Schrott vor sich hin. Vielen Bewohnern scheint der Zustand ihres Dorfes gleichgültig zu sein. In einem kleinen Waldstück etwa hundert Meter von der Schule entfernt liegen Unmengen an Müll und hinter jedem Haus befindet sich eine kleine Mulde, die als Müllhalde dient und erst wenn sie gefüllt ist geschlossen wird.

Wir beschränken unsere Aufräumtätigkeit auf das Beseitigen eines Schrottberges hinter dem Verwaltungsgebäude des Naturschutzgebietes. Mit bloßen Händen versucht unsere Gruppe einen schier riesigen Haufen Schrott auf einen Traktor zu laden. Da wir keinerlei Hilfsmittel haben, bleiben die schweren Teile (z.B. ausgebrannte Eisenbahnwaggons) liegen. Sie liegen wahrscheinlich immer noch dort und der gesammelte Schrott wurde nicht wiederverwertet, sondern lediglich an einen uns unbekannten Ort gekarrt. Die Hauptsache ist ja, daß wir etwas arbeiten.

Die Ausflüge und das Arbeiten sind am Tage, doch am Abend ist es am schönsten! Dann sitzen Russen und Nichtrussen zusammen, trinken Tee (erst ganz spät am Abend kommt der Wodka) und unterhalten sich, spielen zum Teil recht seltsame Spiele, deren Repertoire schier unerschöpflich scheint und singen russische (!) Lieder zur Gitarre. An diesen Abenden kenne ich endlich die Antwort auf die Frage, warum ich ausgerechnet nach Rußland gegangen bin.

Nach 2 Wochen ist das Lager am Kershenez vorbei, doch ich habe viele Freunde kennengelernt, mit denen ich lange nach dem Lager noch Kontakt habe. Zu diesen neuen Freunden gehört auch das “Grüne Segel”, denn die Arbeit, die diese Organisation leistet, hat mich beeindruckt und deshalb bin ich öfters bei ihnen zu Besuch und helfe dort etwas mit (siehe unten).

Wo soll ich wohnen?

Mitte August komme ich vom Kershenez wieder nach Nishnij Nowgorod an die Wolga und stehe vor einem Problem, denn ich weiß nicht, wo ich wohnen soll.

Vor meiner Abfahrt aus Nishnij lebte ich bei Frank und Henryk, die bis dato ihren Friedensdienst in Rußland ableisteten. Doch in ihre Wohnung kann ich nicht zurückkehren, denn die beiden sind längst weg aus Nishnij und in ihre Wohnung ist inzwischen die Vermieterin selbst eingezogen. Ich habe mich auf Galja, meine zukünftige Mitbewohnerin, verlassen, daß sie bis zu meiner Rückkehr eine Wohnung für uns findet. Doch daraus wurde nichts, denn binnen einer Woche konnte sie keine Wohnung auftreiben und nun ist sie im Urlaub.

So bleibt mir nichts anderes übrig, als zusammen mit Nathalie, einer Französin aus Paris, die ich im Lager kennengelernt hatte und die noch ein Weilchen in der Stadt bleiben wollte, in eine Obschtscheshite (Studentenwohnheim) zu ziehen.

Da hält es mich nicht lange und durch eine zufällige Bekanntschaft ergibt sich eine Unterkunftsmöglichkeit für die nächsten 2 Wochen. Eines Abends treffe ich einen gewissen Wanja auf der Straße. Er wird mir als guter Freund von einer meiner Bekannten vorgestellt und bietet mir nach einem kurzen Gespräch an, bei ihm zu wohnen, da seine Eltern im Urlaub wären. Eine tolle Sache, denn die Wohnung liegt mitten im Stadtzentrum. Doch Wanja hatte auch Semesterferien und so genießt er die Zeit bzw. den Alkohol bei den abendlichen Wodkagelagen mit Freunden und Unbekannten.

Nach einer Woche soll ich raus, da ich aber keine andere Unterkunft finde, kann ich noch für eine weiter Woche bei Wanja bleiben, der jetzt seine Wohnung renovierte.

Insgesamt verbringe ich so fünf Wochen bei Bekannten und eine Woche bei meiner Brieffreundin in Wolgograd ehe ich Ende September endlich in meine eigene Wohnung einziehen kann.

Etwa 20 Minuten vom Stadtzentrum entfernt beziehe ich mit Galja (Geschichtslehrerin, deren Wurzeln im Kaukasus liegen) eine 2-Raumwohnung in einer Plattenbausiedlung. Wenn der Strom da ist, die Heizung funktioniert und gleichzeitig warmes Wasser aus dem Wasserhahn kommt, dann ist es hier richtig gemütlich.

Friedensdienst?!

Es ist aber noch lange nicht so gemütlich, daß ich hier Tag und Nacht verbringen möchte. Dazu habe ich auch keine Gelegenheit, denn Friedensdienst heißt arbeiten, fünf Tage in der Woche, manchmal auch am Wochenende. Meine Arbeitswoche teilt sich in mehrere Aufgabenfelder. Als da wären:
Invatur

Invatur ist eine Selbsthilfeorganisation für Rollstuhlfahrer und Gehbehinderte. Zwei mal in der Woche treffen sich die Aktivsten unter den Behinderten und hecken unter der Führung von Rafik Remikowitsch, dem Chef von Invatur, neue Pläne aus.

Nach etwa einigen Wochen “Zusammenarbeit” mit Invatur habe ich allerdings das Gefühl, daß aus den großen Visionen, die die Behinderten dort haben nicht viel in die Realität umgesetzt wird. Woran das liegt, kann ich schwer sagen. Sicherlich fehlt an vielen Stellen das nötige Geld, um aus Luftschlössern etwas handfestes zu machen Doch es gibt auch Pläne, die ohne größere Finanzmittel verwirklicht werden könnten. So plant Rafik zum Beispiel seit längerem, einfache Rampen an öffentlichen Gebäuden zu bauen, damit auch Rollstuhlfahrer die Eingangstreppen überwinden können. Solche Rampen sind in Deutschland längst Normalität, hier jedoch eine Rarität. Die Freiwilligen für diese Arbeit stehen bereit, nur gebaut wird noch nicht. Da im Winter dieses Vorhaben sowieso nicht realisiert werden kann, ist es auf den Frühling verschoben worden. Dafür sollen nun Wohnungen behindertengerecht ausgebaut werden. Ich bin gespannt, wie viele solcher Wohnungen es gibt, wenn der Schnee taut und die Bäume wieder grün werden.

Es ist schwer, sich in der Organisation nützlich zu machen, wenn es keine konkreten Aufgaben gibt. Zwar kann ich helfen, Tische und Schränke durch die Gegend zu tragen, doch auf Dauer lastet mich das ganz sicher nicht aus.

Durch Invatur vermittelt, gehe ich jeweils einmal in der Woche zu 2 Invaliden.

Dima ist 24 Jahre alt, leidet an Muskelschwund und ist deshalb an den Rollstuhl gefesselt. Er wohnt mit seiner Mutter, seiner Oma und seinen beiden kleinen Hunden in der Plattenbausiedlung des Autowerk-Bezirkes. Die Wohnung verläßt er selten, zum Spazierengehen hat er sich noch nicht überreden lassen.

Vor einiger Zeit hat Dima bei Invatur einen Computerkurs belegt und ist seitdem ein echter Computerfreak geworden. Seine Leidenschaft gilt vor allem dem Programmieren und dem Internetdesign. Zusammen mit einem Freund hat er sich Visitenkarten gedruckt, nennt sich “Almadesta Designstudio” und möchte die ganz großen Aufträge zur Gestaltung von Internetseiten bekommen. Mir hat er dabei die Rolle des Managers zugeteilt, da ich ja Kontakte nach Deutschland habe und “Almadesta” dort bekannt machen kann.

Wenn ich ihn mal aus seinen Firmenchef-Träumen reiße, reden wir meist über Politik. Da er Anhänger Putins ist, seinen Krieg in Tschetschenien unterstützt und auch nichts gegen den Angriff auf Afghanistan hat, kommt es immer wieder zu heftigen Diskussionen, wobei es mir leider aus sprachtechnischen Gründen selten gelingt, seine Argumentation zu zerpflücken.

Olga ist ebenfalls Anfang zwanzig, kann als Folge einer Kinderlähmung ihre Bewegungen nur schwer kontrollieren und ist sehr schwer zu verstehen. Trotzdem ist sie lebensfroh und an allem interessiert. Olga wohnt zusammen mit ihrer Familie in einem Hochhaus. Früher hatte sie die Schule besucht und war im letzten Jahr bei Invatur in einem Computerlehrgang. Doch seitdem der Kurs beendet ist, sitzt sie jeden Tag zu Hause.

Wenn ich sie besuche, muß ich immer einen detaillierten Bericht abliefern, was ich in der vergangenen Woche alles gemacht. Ab und an gehe ich mit ihr spazieren. Dann zeigt sie mir ihr Stadtviertel und als Nichtrollstuhlfahrer bekomme ich dann zu spüren, was hohe Bordsteinkanten, Treppen, katastrophale Wege und sonstige Absätze für Rollstuhlfahrer oder Mütter mit Kinderwagen bedeuten.

Grünes Segel

Zum “Grünen Segel” (”Seljonyj Parus”) habe ich seit dem Lager in Rustaj eine enge Bindung.

Dem Namen nach ist “Seljonyj Parus” eine Umweltorganisation für Kinder und Jugendliche. Ihr Chef ist Rachit Chabiboulline, gebürtiger Tatare und studierter Biologe. Er lehrt den Kindern den vernünftigen Umgang mit ihrer Natur und organisiert vielerlei Aktionen zum Schutz der Umwelt in der Stadt. So sind die Kinder und Jugendlichen von Seljonyj Parus im Sommer und Herbst jedes Wochenende an einen kleinen Fluß in der Stadt gezogen, um ihn vom Zivilisationsmüll zu befreien. Außerdem ist geplant, eine Mülltrennung nach deutschem Vorbild wenigstens versuchsweise in Nishnij Nowgorod einzuführen.

Die Bezeichnung als bloße Umweltorganisation wird dem “Grünen Segel” allerdings nicht gerecht. Vielmehr bietet “Seljonyj Parus” Kindern und Jugendlichen der Stadt eine sinnvolle Freizeitbeschäftigung, die weit über die Grenzen der Biologie hinausgeht. Am Nachmittag nach der Schule kommen viele Jugendliche der Stadt aus allen sozialen Schichten, um an den angebotenen Computerkursen, dem Englischunterricht oder an der Gestaltung der alle 2 Monate erscheinenden Zeitung des “Grünen Segels” teilzunehmen.

Das “Grüne Segel” übernimmt die Funktion eines Hortes, der die Kinder von der Straße holt, indem er ihnen eine interessante Freizeitgestaltung ermöglicht.

Zusammen mit einer Umweltorganisation aus Nordrhein-Westfalen organisiert “Seljonyj Paros” jedes Jahr einen Jugendaustausch. Die Partner aus Deutschland sind natürlich an den Tätigkeiten des “Grüne Segel” interessiert, doch noch gibt es die Internetseite von “Seljonyj Parus” (www.greensail.ru) nur auf deutsch. Meine Aufgabe beim “Grünen Segel” besteht hauptsächlich darin, diese Internetseite ins Deutsche zu übertragen. Außerdem nehme ich des öfteren an Aktionen der Umweltorganisation teil, die für alle Teilnehmer immer ein großer Spaß sind.

Komitee der Soldatenmütter

Ein mal in der Woche gehe ich zum Komitee der Soldatenmütter, das für das Gebiet Nishnij Nowgorods zuständig ist. Das Büro der Soldatenmütter befindet sich in einem kleinen Zimmerchen eines großen Büro- und Geschäftskomplexes. Dort kümmern sich die meist vier oder fünf anwesenden “Soldatenmütter” um die Probleme junger Wehrdienstleistender. Zwar haben die wenigsten Mitarbeiterinnen tatsächlich in der Armee dienende Kinder, doch die Nöte der hilfesuchenden Mütter können alle verstehen. Liebevoll kümmern sie sich um manchmal verzweifelnde Mütter und energisch treten sie den uniformierten Schreibtischhockern des Armeeapparates entgegen.

Meist müssen sich die “Soldatenmütter” mit ausstehendem Sold in Tschetschenien dienender Wehrpflichtiger auseinandersetzten. Da kommen erhebliche Geldsummen zusammen, die den Soldaten zustehen, denn während ihres Dienstes in Tschetschenien bekommen sie ihren Sold nicht ausbezahlt, damit er ihnen nicht von Vorgesetzten sofort wieder abgenommen wird. Doch nach ihrem 2jährigen Wehrdienst müssen viele um ihr Geld kämpfen.

Leider sind dies Probleme der angenehmeren Art. Es gibt auch Fälle, in denen Mütter seit Monaten nichts mehr von ihrem dienenden Sohn gehört haben, dieser von Vorgesetzten so verprügelt wurde, daß er im Krankenhaus liegt oder er aus Tschetschenien im Zinksarg nach Hause kommt. 300 Soldaten, meist in meinem Alter, sind in den letzten 7 Jahren auf diesem Wege aus Tschetschenien in das Nishegoroder Gebiet zurückgekehrt. Doch von der Sinnlosigkeit dieses Krieges hat selbst diese Tatsache die meisten Russen nicht überzeugt. So ist das Komitee der Soldatenmütter immer noch eine der wenigen Einrichtungen in Rußland, die sich gegen diesen Krieg im Kaukasus stellen.

Es war am Anfang recht schwierig eine geeignete Arbeit für mich bei den Soldatenmüttern zu finden, da man dort fließend Russisch beherrschen muß. Schließlich habe ich die Arbeit übernommen, für die von den Soldatenmüttern keiner Zeit hat: Ich ordne die eingehende Post den Akten der jeweiligen Wehrdienstleistenden zu.

Diese Arbeit ist bei “meinen” netten Soldatenmüttern ziemlich unbeliebt und sie können gar nicht verstehen, warum ich mich den ganzen Tag damit beschäftigen kann. Ich finde die Korrespondenz dagegen hoch interessant, denn dadurch gewinne ich einen tiefen Einblick in die Arbeit der Soldatenmütter. Außerdem bin ich auch immer mit einem Ohr bei den Gesprächen mit den Soldaten und ihren Müttern dabei und versuche soviel wie möglich mitzubekommen.

Walera

Einmal in der Woche gehe ich zu Walera, einem ehemaligen Deutschlehrer, der seit einem Schlaganfall als Pensionär allein zu Hause sitzt. Walera ist etwas über 60 Jahre alt und hat so gut wie keine Verwandtschaft. Sein Bruder wohnt am anderen Ende der Stadt und schaut ab und zu mal vorbei, nicht sehr oft. Außerdem gibt es noch einen ominösen Cousin, der angeblich im selben Haus wohnt und morgens und abends Walera etwas zu Essen macht. Andreas (mein Friedi-Kollege, der Walera 2 mal in der Woche besucht) hat ihn wohl schon mal getroffen, von ihm aber nur das Verbot erhalten, Walera auch mittags etwas zu kochen.

Seit einigen Wochen kämpfen Andreas und ich nun schon gegen den Dreck in seiner Wohnung an (und gegen seine Katze) , versuchen, ihm bei all seinen Problemen zu helfen und unterhalten uns mit ihm.

Gerade die Unterhaltungen scheinen ihn ungemein zu beleben, sitzt er doch sonst den ganzen Tag allein vor seinem Fernseher oder Radio. Dementsprechend schwer viel es uns am Anfang, einen Dialog mit ihm zu führen, denn er war es wohl nicht mehr gewohnt, auf Gesprochenes auch zu antworten. Mittlerweile antwortet er nicht mehr nur auf Fragen, sondern beginnt damit, selbst Fragen zu stellen und das Gespräch auf bestimmte Themen zu lenken.

Die Besuche bei Walera sind inzwischen eine der wichtigsten Aufgaben meines Friedensdienstes in Nishnij, denn bei ihm merkt man, wie sehr man gebraucht wird, wie sehr ihm unsere Besuche helfen.

Und sonst?

Nun ist es nicht so, daß ich 7 Tage in der Woche rund um die Uhr arbeite. Freizeit haben ich eine Menge, doch Zeit fast nie!

In den vergangenen Wochen in Rußland habe ich eine Menge neuer Freunde kennengelernt, mit denen ich mich häufig treffe. Ab und zu gehe ich ins Theater, ins Kino, in ein Museum oder zu öffentlichen Internetcomputern, um zu sehen, was es neues in Deutschland gibt.

Im September habe ich eine Woche Urlaub gemacht und bin mit dem Zug in 34 Stunden 1200 Kilometer nach Süden gefahren. Dort in Wolgograd habe ich meine Brieffreundin besucht und eine Woche lang an dem Schüleraustausch meiner ehemaligen Schule teilgenommen.

In Wolgograd, in der südlich von Wolgograd gelegenen Republik Kalmückien, in Nishnij Nowgorod und all den anderen Orten Rußlands habe ich interessante, aufdringliche, liebenswerte und extrem unhöfliche Menschen kennengelernt. Doch zu diesen Begegnungen mit den Menschen Rußlands mehr im nächsten Rundbrief.

Ich hoffe, niemand, der sich bis hier her durchgearbeitet hat, bereut es jetzt. Über Eure Anregungen, Kritiken, Hinweise, Lobe oder Fragen würde ich mich sehr freuen. Wer meine Arbeit hier für sinnvoll erachtet, kann mich gerne mit einer Spende auf folgendes Konto unterstützen:

Gesellschaft für Deutsch-Russische Begegnung Essen e.V.
Stichwort: Martin
Spendenkonto:3351 432
Postbank Essen
BLZ: 36010043
(wird eine Adresse angegeben, so erhält der Spender eine Spendenquittung)

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