Serhij Zhadan, Hg.: Totalniy Futbol – Eine polnisch-ukrainische Fußballreise. Übersetzt von Lisa Palmes. Berlin: Suhrkamp Verlag 2012. 242 S. 18,– €
Eine Rezension von Martin Brand
Kurz vor der Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine hat der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan vier polnische und vier ukrainische Autoren gebeten, die Austragungsorte der EM zu porträtieren und zu erzählen, wie sich der tiefgreifende politische Wandel in der Region auf das Leben und den Fußball ausgewirkt hat. Zhadan stellt die Gastgeberstädte der EM aus der Sicht jener Menschen vor, die den Fußball zu ihrer Herzensangelegenheit gemacht haben, die für das Spiel leben und mit ihrem Klub leiden. Die acht Porträts verbinden den Sport und die Eigenarten der Stadt – je nach Autor liegt der Schwerpunkt mal auf Geschichte und Charakter der Stadt, mal auf dem Fußballsport. Der Fotograf Kirill Golovchenko ergänzt den Band mit Schwarz-Weiß Bildern, die im Kontrast zu den PR-Fotos der EM-Organisatoren Momentaufnahmen des Fußballs und der sozialen Verhältnisse in Polen und der Ukraine einfangen.
Paweł Huelle lässt den alten Danziger Fußballfan Herrn Janek erzählen, wie er als junger Mann seinen Verein Lechia Gdańsk mit zwei Toren gegen Legia Warschau vor dem Abstieg rettete oder wie er als kleiner Junge das Spiel zwischen dem jüdischen Klub Makkabi Drohobycz und dem polnischen Verein Gedania Gdańsk in der von den Nazis schon fast vollständig beherrschten Freien Stadt Danzig sah. Während sich auf dem Fernsehschirm im Pub Hooligans aus Gdańsk und Gdynia prügeln, berichtet Herr Janek von Straßenschlachten mit der Miliz Anfang der 1980er Jahre, als dabei „Keine Freiheit ohne Solidarność“ geschrien wurde. So blickt Huelle auf zwei zentrale Themen der Stadt: die deutsche Vergangenheit und die Solidarność.
Weit weniger vom Fußball geprägt ist das Stadtporträt, das Natasza Goerke von Poznań schreibt. Ihre rudimentären Kenntnisse des Fußballs bekennt sie auch gleich zu Beginn freimütig, macht dies jedoch durch eine umso amüsantere und von latenter Ironie begleitete Beschreibung polnischer und Poznańer Eigenarten wett. Der Fußballfan erfährt trotzdem, dass bereits 1912 die ersten Polen in Poznań Fußball spielten, der Eisenbahnerklub Lech Poznań der ganze Stolz der Stadt ist und dass ein alter deutscher Bunker in das renovierte EM-Stadion integriert wurde.
In Wrocław verwebt Piotr Siemion geschickt die Geschichte der Stadt mit der Entwicklung des Militärsportvereins Śląsk Wrocław. Mit Trawiński, dem ältesten Mitglied der Fangemeinde Wielki Śląsk, streift er in Gedanken durch das nach dem Krieg in Schutt liegende Wrocław, erzählt von den damals aus Ostpolen neu zugezogenen Menschen, deren Erinnerung an die alte Heimat allmählich verblasste, und beschreibt, wie die Stadt seitdem an ihrer neuen Normalität baut. Zur dieser neuen Normalität gehört auch das gerade fertiggestellte EM-Stadion. Doch für Trawiński ist es zu neu; es habe nichts mehr mit seiner Tradition zu tun, die östlich des Bugs liege.
Den wohl literarisch anspruchsvollsten Text des Bandes legt Marek Bieńczyk vor. Er erzählt die Lebensläufe von Vava, Kawka und Jo, die im Warschauer Stadtteil Grochów aufwuchsen, auf der rechten Seite der Weichsel, dort wo sich einst das Stadion X-lecia befand und heute das Nationalstadion steht. Mit den Lebensgeschichten und Weisheiten der einst fußballverrückten Protagonisten gelingt Bieńczyk ein feinsinniges Porträt jener Menschen, die sich im Osten Warschaus durchs Leben geschlagen haben.
Nadja Snjadankos Beitrag über das westukrainische Lemberg schildert den Kampf um konkurrierende Geschichtsbilder, der die Stadt prägt. Die vielen umstrittenen Denkmäler der Stadt und das erste galizische Fußballspiel, das 1894 im Lemberger Stryjskyj-Park stattfand und das die Polen, aber auch die Ukrainer als ihr erstes Fußballspiel betrachten, sind anschauliche Beispiele. Doch letztlich diene – so Snjadanko – der Streit um die richtige Geschichtsinterpretation nur den Politikern, um von Inflation und steigenden Gaspreisen abzulenken.
Juri Andruchowytsch widmet seinen Text der Kiewer Fußballlegende Valeri Lobanowskyj und der Geschichte seines Lieblingsvereins Dynamo Kiew. Er beschreibt, wie der geniale Lobanowskyj als Trainer die sowjetische Nationalmannschaft zu einer ukrainischen machte und wie er Dynamo Kiew in den 1970er und 1980er Jahren zu einer Spitzenmannschaft in Europa formte. Nach dem Zerfall des sowjetischen Imperiums habe Dynamo aber nie mehr an die erfolgreiche Zeit anschließen können – trotz des Geldes des Oligarchen Hryhorij Surkis. Und auch Lobanowskyj fiel dem Untergang der Sowjetunion zum Opfer. Zwar war er bis zu seinem Tod 2002 Trainer der ukrainischen Nationalmannschaft und von Dynamo Kiew, doch sein einziges Interesse soll in jener Zeit dem Kognak gegolten haben.
Als Fan von Metalist Charkiw beschreibt Oleksandr Uschkalow seine Heimatstadt und die dortigen Vorbereitungen auf die Fußball-Europameisterschaft. Er erzählt von der Geschichte des Metalist-Stadions und von den Fußballmannschaften der Stadt, die sich zu Beginn des Jahrhunderts Namen wie Zap-Zarap, Maulwürfe, Barfüßer oder Hungerleider gaben. Nur über den einflussreichen Oligarchen und Mäzen von Metalist Charkiw Oleksandr Jaroslawskyj erfährt man auffallend wenig.
Schließlich porträtiert Serhij Zhadan den Verein Schachtar Donezk, der erst mit dem Einstieg des Oligarchen Rinat Achmetow 1996 wirkliche Erfolge verbuchen konnte. Zhadan spricht mit örtlichen Ultra-Fans, besucht die neue Donbas-Arena und befasst sich mit dem ideologischen und propagandistischen Potential der EM. Sein Fazit: Fußball und Politik sind in der Ukraine so eng miteinander verbunden, dass ein sportliches und finanzielles Scheitern der EM jener kleine Tropfen wäre, der das Fass der gesellschaftlichen Duldsamkeit mit der „totalen Korruption“ in der ukrainischen Politik zum Überlaufen brächte.
Der Essayband Totalniy futbol ist ein äußerst lesenswerter literarischer Streifzug durch die Austragungsorte der Fußball-Europameisterschaft. Das Buch ist allerdings keine umfassende Fußballenzyklopädie Polens und der Ukraine. Viele erzählenswerte Geschichten aus dem polnischen und ukrainischen Fußball fehlen. Manchmal wünscht man sich auch eine tiefere Analyse politischer und gesellschaftlicher Themen, etwa zur Rolle der ukrainischen Oligarchen bei der Vorbereitung der EM oder zu sozialen Auswirkungen der teuersten Europameisterschaft aller Zeiten. Doch das ist nicht der Anspruch des Bandes. Den Autoren ging es darum, den Fußball als Teil ihrer Stadtgeschichte zu entdecken. Das ist ihnen mit ihren kurzweiligen Essays gänzlich gelungen.
Erschienen in: Osteuropa 03/2012, S. 181-183
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