In dubio pro Putin

Die Übernahme des regierungskritischen Senders NTW durch den halbstaatlichen Konzern Gasprom ist nahezu perfekt, während Putin die Pressefreiheit beschwört.

Medienfreiheit ade! So könnte man die gestrige Neuwahl des NTW-Vorstandes lapidar kommentieren. Der staatlich kontrollierte Erdöl- und Gasgigant Gasprom hat am Dienstag die Führung des Senders übernommen. Damit ist die letzte Bastion landesweit empfangbarer unabhängiger Berichterstattung gefallen. Auf einer außerordentlichen Aktionärsversammlung der Media-Most-Holding, dem Mutterunternehmen von NTW (Nezavisimoje Televidenie), wurde der alte Aufsichtsrat, der unter Führung des NTW-Gründers Wladimir Gussinskij stand, abgesetzt.

Weder Gussinskij noch einer seiner drei Stellvertreter wurden in den neuen Aufsichtsrat wiedergewählt, der nun fast vollständig mit Mitarbeitern von Gasprom und deren Medienzweig Gasprom-Media besetzt ist. Damit ist es nahezu unmöglich geworden, den Sender frei von staatlicher Kontrolle zu halten. NTW war wegen angeblicher Negativ-Berichterstattung über den Präsidenten und den Tschetschenienkrieg in die Kritik geraten.

Neuer Vorsitzender der Media-Most-Holding ist seit Dienstag der Chef von Gasprom-Media, Alfred Koch. Als neuer Generaldirektor von NTW wurde der in den USA lebende russische Geschäftsmann Boris Jordan genannt, der damit die Nachfolge des beliebten Journalisten Jewgenij Kisseljow antritt. Jordan gab allerdings bekannt, dass er sich in journalistischen Fragen nicht einmischen wolle, und Kisseljow dürfe als Redakteur selbstverständlich weiterarbeiten.

Möglich wurde die Übernahme des einzigen landesweit empfangbaren unabhängigen Fernsehsenders aufgrund einer Gerichtsentscheidung, wonach ein Teil des Wladimir Gussinskij gehörenden Aktienpakets der Media-Most AG eingefroren wurde. Deshalb konnte Gasprom die absolute Mehrheit der Stimmen auf der Aktionärsversammlung kontrollieren. Es geht aber nicht nur um politische Aspekte sondern auch um wirtschaftliche: Gasprom ist einer der Hauptgläubiger von NTW.

Die Rechtmäßigkeit dieser Aktionärsversammlung zu diesem Zeitpunkt ist allerdings umstritten. Erst am Montag hoben zwei Moskauer Gerichte ein Verbot der Versammlung auf. Die Journalisten und Mitarbeiter des Senders wollten dies aber nicht hinnehmen, da sie unter einem neuen Aufsichtsrat um ihre journalistische Unabhängigkeit fürchten. Auf der Internetseite des Senders erklärten sie, dass die stattfindende Aktionärsversammlung gesetzeswidrig sei. Die NTW-Journalisten wehren sich gegen eine Absetzung ihres Vorsitzenden Jewgenij Kisseljow und wählten ihn deshalb zum Chefredakteur. Dieser kann nach einer Statutenänderung nicht von den Aktionären entlassen werden.

In der Erklärung der Journalisten von NTW heißt es: “Wir verstehen, dass das endgültige Ziel dieser Versammlung – ebenso wie alle anderen Maßnahmen der Machthaber gegen NTW – die Erringung der vollständigen politischen Kontrolle über unser Unternehmen ist. Es besteht keinerlei Zweifel, dass Wladimir Putin sich dieser Entwicklungen völlig bewusst ist, und er deshalb die Verantwortung für alle Konsequenzen trägt. […] Wir sind überzeugt, dass [die Ablösung des NTW-Generaldirektors] zu einer Änderung der redaktionellen Politik führen würde und einen Verlust der Identität des Senders zur Folge hätte.” Die NTW-Redakteure unterstrichen ihre Verbundenheit zu Kisseljow und erklärten weiter, dass sie sich eine Zukunft ohne Kisseljow nicht vorstellen können und nicht unter einem anderen Generaldirektor arbeiten werden.

Groteskerweise hielt Präsident Putin zur selben Zeit seine Rede zur Lage der Nation, in der er sich unter anderem für Presse- und Meinungsfreiheit aussprach. Der Zeitpunkt dieser Rede ist geschickt gewählt, entzieht er damit doch einen großen Teil der Aufmerksamkeit der Journalisten den Ereignissen um NTW.

Das Fernsehen ist mit Abstand das wichtigste Informationsmittel der Russen. In nahezu jedem Haushalt steht ein Fernseher, wohingegen nur ein Drittel der Bevölkerung Zeitung liest. Für die Menschen in Russland wird mit der Übernahme von NTW nun die wichtigste nichtstaatliche Informationsquelle weggefallen. Welche Auswirkungen das auf die Information der Bevölkerung hat, werden die nächsten Tage und Wochen zeigen.

Dieser Artikel erschien zuerst 2001 im Internetportal meOme.de.

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