Lemberger Fußball von 1894-1945
Von Robert Kalimullin und Martin Brand
Lemberg (poln. Lwów, ukr. L’viv) war einst das Herz des polnischen Fußballs (1). Dort fand das erste offizielle polnische Fußballspiel statt, dort gründeten sich die ersten Vereine Polens und dort spielten vor dem Zweiten Weltkrieg Fußballmannschaften, die bis heute in Polen legendär sind. Aber auch den Ukrainern gilt die Stadt als Wiege ihres nationalen Fußballs. Dort gründete sich der erste national-ukrainische Turnverein, dort bildete zu polnischen Zeiten der Verein Ukraina Lemberg eine Bastion der ukrainischen Nation und das erste polnische Fußballspiel wird dort als ukrainisches Match interpretiert. Bis heute spielt die unterschiedlich interpretierte Fußballgeschichte der Stadt eine wichtige Rolle in der „nationalen Erzählung“ in Polen und der Ukraine, was besonders im Vorfeld der von beiden Ländern gemeinsam ausgetragenen Fußball-Europameisterschaft 2012 deutlich wurde.
Streift man durch die Geschichte des Lemberger Fußballs vom Ende des 19. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, erkennt man, wie die ethnische Vielfalt des multikulturellen Schmelztiegels Lemberg die rasante Entwicklung des Sports mit dem runden Leder entscheidend prägte. In einer Zeit des blühenden Nationalismus entfaltete sich der organisierte Fußball der Stadt nämlich vornehmlich entlang nationaler Volkszugehörigkeiten und spiegelt die nationalen Spannungen in Lemberg wider.
Wie der Fußball nach Lemberg kam
Lemberg ist Ende des 19. Jahrhunderts Hauptstadt des Kronlandes Galizien und Lodomerien, einer Provinz der österreichisch-ungarischen k. und k. Monarchie. Es ist eine multikulturelle, vielsprachige Stadt. Ein „bunter Fleck im Osten Europas“, eine „kleine Filiale der großen Welt“, wie der österreichische Schriftsteller Joseph Roth schwärmt (2). Gut jeder zweite Einwohner ist Pole, gut jeder vierte Lemberger ein Jude und fast jeder fünfte Einwohner der Stadt fühlt sich als Ukrainer (3). Das ostgalizische Lemberg ist in jener Zeit ein Zentrum der polnischen Kultur, aber auch der Ort, an dem die ukrainische Nationalbewegung erwächst. Aber Ende des 19. Jahrhunderts existieren weder Polen noch die Ukraine als Staaten auf der europäischen Landkarte. Polen ist seit 1795 zwischen Russland, Preußen und Österreich aufgeteilt; die ukrainische Nationalbewegung kämpft noch um die Anerkennung der Ukrainer als eigenständige Nation.
Im 19. Jahrhundert blühte der Nationalismus in Europa auf, und dank der liberalen österreichischen Nationalitätenpolitik konnten die nationalen Bestrebungen der Polen in Galizien besser gedeihen als in den anderen Teilungsgebieten. Eine bedeutende Funktion im Streben nach nationaler Selbstbehauptung und Unabhängigkeit übernahmen die Turnbewegungen „Sokol“ (Falke), die sich bei vielen staatenlosen slawischen Völkern entwickelte. In Lemberg entstand 1867 der erste polnische „Sokół“-Verein, der sich ab den 1880er Jahren sehr dynamisch entwickelte. Ziel dieses Turnvereins war die körperliche Ertüchtigung der polnischen jungen Männer, die zugleich zum nationalen Patriotismus erzogen wurden. Im Auftrag der Stadt richtete der Lemberger „Sokół“ den Turn- und Gymnastikunterricht in den Schulen aus (4). Erst 1894 wurde als Pendant zum polnischen „Sokół“ der ukrainische Turnverein „Sokil Bat’ko“ gegründet.
Pionier des Fußballs in Lemberg war Professor Edmund Cenar (1856–1913), Dozent an einem Lemberger Lehrerseminar und enthusiastisches Mitglied des Lemberger „Sokół“. Im Jahre 1891 veröffentlichte er ein Buch über Gymnastikspiele für die Schuljugend (5), in dem er die grundlegenden Regeln des Fußballs erstmals aus dem Englischen ins Polnische übersetzte. Ein Jahr später soll er den ersten echten Lederball von einer Reise nach England mitgebracht haben. Ursprünglich wollten einige Gymnasiallehrer in Lemberg erstmals 1892 auf dem ersten Verbandstreffen der polnischen „Sokół“-Bewegung das Fußballspiel öffentlich vorführen, wozu es aus ungeklärten Gründen jedoch zunächst nicht kam. Etwa zur gleichen Zeit führte der Krakauer Arzt und Universitätsprofessor Henryk Jordan (1842–1907) das Fußballspiel in Westgalizien ein. Er hatte es von seinen Reisen nach Deutschland und Großbritannien mitgebracht und engagierte sich in Krakau für die körperliche und national-patriotische Erziehung der jungen Polen (6).
Die öffentliche Premiere eines Fußballmatches fand schließlich auf dem zweiten Verbandstreffen des polnischen „Sokółs“ 1894 in Lemberg statt: An dem lauen Samstagnachmittag des 14. Juli treten um 17.00 Uhr die „Sokół“-Mannschaften aus Lemberg und Krakau vor gut zehntausend Zuschauern im Lemberger Stryjski-Park zum Fußballspielen an. Teilnehmer berichten von einem chaotischen Spiel. Weder Zuschauer noch Spieler kennen sich recht mit den Regeln aus. Die Spieler wissen nur eins: der Ball muss irgendwie zwischen den Fahnenstangen des Gegners untergebracht werden. Es geht wild hin und her beim Kampf um den Ball, doch nach sechs Minuten erzielt Włodzimierz Chomicki – aus abseitsverdächtiger Position – das 1:0 für die Gastgeber. Nach dem Tor wird die erste Fußballpartie der Stadt jedoch beendet und Platz gemacht für die Gymnasten, die dem Publikum ihre Gruppenübungen demonstrieren. Der aus Krakau stammende Schiedsrichter Prof. Zygmunt Wyrobek und die Krakauer Mannschaft protestieren vergeblich (7).
Wenn Nationalitäten Vereine gründen
Nach dieser ersten, recht kurzen Demonstration des Fußballspiels dauerte es noch fast ein Jahrzehnt, bis die ersten Fußballclubs in Galizien gegründet wurden. Aus den Sportgruppen der I. Realschule und des VI. Gymnasiums in Lemberg gingen 1903 die beiden ersten polnischen Fußballvereine Czarni und Lechia Lwów hervor. Am IV. Gymnasium gründetet der Sportlehrer Eugeniusz Piasecki 1904 einen Sport- und Turnklub, der wenige Jahre später den Namen Pogoń Lwów erhielt und bis zum Zweiten Weltkrieg das erfolgreichste polnische Fußballteam war (8). Nachdem Czarni und das IV. Gymnasium 1906 zu einem Demonstrationswettkampf in Krakau waren, wurden dort die noch heute bekannten Vereine Cracovia und Wisła gegründet.
Wenige Jahre nach der Gründung der ersten polnischen Klubs entstanden jüdische und ukrainische Fußballmannschaften. Im Jahr 1908 wurde der Jüdische Sportklub Hasmonea als Verein des konservativ-bürgerlichen Judentums gegründet. Sein Name leitet sich von der jüdischen Dynastie der Hasmonäer ab und symbolisiert den Kampf des jüdischen Volkes um religiöse und politische Freiheit. Schnell fand Hasmonea seinen Platz unter den besten Lemberger Fußballvereinen. Zugleich war der Klub unter den jüdischen Jugendlichen auch deshalb beliebt, weil er ihnen ein organisiertes jüdisches gesellschaftliches Leben bot (9).
Auch an den ukrainischen Gymnasien der Stadt wurde um die Jahrhundertwende begeistert Fußball gespielt. Patron des ukrainischen Fußballs in Lemberg war Professor Ivan Boberskyj. Er war Mitbegründer des ukrainischen Sokil Bat’ko und Lehrer am Ukrainisch-Akademischen Gymnasium in Lemberg, wo er die Jugendlichen Fußball spielen ließ. 1906 gründete er dort den Ukrainischen Sportklub und engagierte einen Fußballlehrer aus Tschechien. Um auch an der Universität weiterhin Fußball spielen zu können, gründeten Studenten dann 1911 den Fußballklub Ukraina L´viv (10).
Wenn der Berliner Schriftsteller Alfred Döblin 1924 von einem furchtbar intensiven Völkerkampf in Lemberg und einer unterirdisch wühlenden Feindschaft und Gewalt schreibt (11), lässt sich vermuten, dass sich diese Stimmung in den beim Publikum so beliebten Fußballspielen widerspiegelt. Denn gerade die Sport- und Fußballvereine Lembergs waren national definiert und verstanden sich selbst als Ort des nationalen Bewusstseins. Doch von der Atmosphäre bei Begegnungen zwischen polnischen, jüdischen und ukrainischen Clubs ist so gut wie nichts bekannt. Einer der besten Kenner der Lemberger Fußballgeschichte, der Sportjournalist Oleksandr Pauk, ist der Ansicht, das Publikum hätte diese Spiele zwar immer sehr hitzig, aber friedlich begleitet (12).
Lemberger Fußball im unabhängigen Polen
Die Neuordnung Europas nach dem ersten Weltkrieg brachte für Polen die im 18. Jahrhundert verloren gegangene staatliche Unabhängigkeit zurück, für die Ukrainer in Lemberg zerschlugen sich dagegen entsprechende Hoffnungen auf einen eigenen Staat. Nach den Kriegswirren wurde erstmals 1921 eine gesamtpolnische Fußballmeisterschaft ausgespielt, die der Fußballklub Cracovia Kraków für sich entschied.
In den folgenden Jahren sollte der polnische Fußball jedoch von einem Lemberger Verein bestimmt werden. Pogoń Lwów konnte den polnischen Meistertitel im Jahr 1922 nach Lemberg holen und bis 1926 verteidigen. Wegen der Vorbereitungen auf die Olympischen Spiele wurde 1924 allerdings keine Meisterschaft ausgespielt. Erfolgsgarant war für Lemberg ein Ausländer: Bis 1925 war mit Karl Fischer ausgerechnet ein österreichischer Fußballlehrer Meistertrainer in Lemberg. Als es Fischer 1925 zum italienischen Verein Edera Triest zog, brachte die Mannschaft 1926 sogar das Kunststück fertig, ihren Titel ohne Trainer zu verteidigen. Danach endete die große Ära von Pogoń im polnischen Fußball. Trotz einiger zweiter Plätze in der 1927 gegründeten polnischen Fußballliga war dem Verein bis zur Auflösung infolge des Krieges kein Meistertitel mehr beschieden. Wisła Kraków, Cracovia Kraków und der oberschlesische Verein Ruch Chorzów (bis 1938 Hajduki Wielkie) übernahmen die Vorherrschaft im polnischen Fußball. Als einer der bedeutendsten polnischen Vereine pflegte Pogoń seine internationalen Kontakte zu anderen europäischen Teams, insbesondere aus Österreich und Ungarn. Es fanden auch Reisen nach Frankreich und Belgien statt. Im Jahr 1934 konnte sogar der AC Mailand in Lemberg mit 5:3 bezwungen werden (13).
Im wohl ersten großen Skandal des polnischen Fußballs Ende 1925 spielte der jüdische Klub Hasmonea Lemberg die Hauptrolle. Der kurz zuvor von Hasmonea entlassene österreichische Trainer Friedrich Kerr beschuldigte die Lemberger Vereine Hasmonea, Pogoń, Czarni und Sparta in einem offenen Brief, entgegen dem Amateurstatus des polnischen Fußballverbands Gehälter an die Spieler zu zahlen. Daraufhin sperrte der polnische Fußballverband neun Spieler von Hasmonea wegen unerlaubten „berufsmäßigen Fußballspielens“, drei von ihnen verließen anschließend den Verein. Der Skandal um den Profi-Fußball in Lemberg führte 1927 dazu, dass der polnische Fußballverband eine landesweite Liga einrichtete (14).
In dieser neuen Fußballliga war Lemberg stark vertreten. Pogoń, Czarni und Hasmonea zählten zu den Gründungsmitgliedern. Mit Lechia Lwów schaffte es ein vierter Lemberger Verein 1931 in die höchste polnische Spielklasse, der sich jedoch nur eine Saison halten konnte. Ähnlich viele Vereine stellten nur Krakau und Warschau. Auffallend ist, dass in der 14 Mannschaften umfassenden ersten polnischen Liga von 1927 gleich drei Vereine nationaler Minderheiten vertreten waren. Neben den beiden jüdischen Klubs Hasmonea aus Lemberg und Jutrzenka aus Krakau war dies der deutsche 1. FC Kattowitz aus Oberschlesien.
Eine besondere Bedeutung für die ukrainische Minderheit im Lemberg der Zwischenkriegszeit besaß der Verein Ukraina L’viv. Denn er galt nicht nur als Repräsentant des ukrainischen Sports, sondern auch der ukrainischen Nation. In die erste polnische Liga schaffte es der Klub allerdings nie. Seine sportlich erfolgreichste Zeit fällt in die zweite Hälfte der 1930er Jahre, als Ukraina L’viv in der höchsten Spielklasse der Region Lemberg mit Konkurrenten wie Czarni, Hasmonea oder Junak Drohobycz regelmäßig um die vorderen Plätze kämpfte (15).
Wenig bekannt ist die Geschichte des 1923 gegründeten deutschen Sportklubs Vis. Seine Fußballsektion trat nach einigen Freundschaftsspielen 1924 dem polnischen Fußballverband bei, um sich an den Meisterschaftsspielen der Lemberger Mannschaften zu beteiligen. Im Herbst 1925 gewann der Sportklub Vis die Meisterschaft in der untersten C-Klasse. Ein Jahr später wurde die Mannschaft auch in der B-Klasse Meister, verlor jedoch das Qualifikationsspiel zur höchsten Spielklasse der Region Lemberg. Ende der 1920er Jahre schrieb das Ostdeutsche Volksblatt aus Lemberg von einem zunehmend nationalistisch motivierten unsportlichen Verhalten der gegnerischen Mannschaften, der Schiedsrichter und einigen Zuschauer. Aus diesem Grund zog sich der Sportklub Vis 1931 aus dem polnischen Fußballverband zurück und trug keine Meisterschaftsspiele mehr gegen polnische Mannschaften aus (16).
Lemberger Fußball im Krieg
Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 begann das Ende des polnischen Lembergs. Als Folge des Molotow-Ribbentrop-Pakts wurde Mittelosteuropa zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion aufgeteilt und Lemberg zu einer sowjetischen Stadt. Die neuen Machthaber lösten die bestehenden polnischen, ukrainischen und jüdischen Sportklubs auf und gründeten an ihrer Stelle neue Vereine mit Namen wie „Dynamo“ „Lokomotive“ oder „Spartak“. Unter den 24 neuen Fußballvereinen avancierte binnen kurzer Zeit Spartak Lemberg zum erfolgreichsten und beliebtesten Klub. Denn der ehemalige Präsident des Arbeitervereins RKS Lemberg versammelte bei Spartak die besten Spieler der früheren Vereine Pogoń, Ukraina und RKS Lemberg. Unter ihnen war auch die spätere polnische Trainerlegende Kazimierz Górski, der in Lemberg seine Fußballkarriere begann (17).
Nach dem Überfall auf die Sowjetunion nahmen deutsche Truppen am 30. Juni 1941 Lemberg ein. Sport wurde für Polen und Juden verboten, denn die deutschen Besatzer fürchteten, dass die Turn- und Sportvereine zum Hort des nationalen Widerstands werden könnten. In keinem anderen besetzen Land in Europa griffen die Nazis zu einer solchen Maßnahme. Trotzdem trafen sich polnische Mannschaften zu konspirativen Fußballspielen. Ukrainern hingegen wurde das Fußballspielen von den deutschen Besatzern gestattet. In Lemberg gründeten sich ukrainische Fabrik- und Universitätsmannschaften und auch der alte Klub Ukraina wurde wiederbelebt. Von 1942 bis zum Ende der deutschen Besatzung 1944 richteten die westukrainischen Klubs sogar eine eigene Fußballliga aus (18).
Etliche bekannte Lemberger Fußballspieler überlebten die sowjetische und deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkrieges nicht. So wurde beispielsweise die Lemberger Stürmerlegende Zygmunt Steuermann, die in den 20er und 30er Jahren für Hasmonea und die polnische Nationalmannschaft spielte, im Dezember 1941 im Lemberger Ghetto erschossen. Adolf Zimmer, ebenfalls Nationalspieler und Stürmer von Pogoń Lwów, wurde bereits 1940 vom sowjetischen Geheimdienst NKDW in Charkiw ermordet.
Zu einem seltsamen und höchst umstrittenen Fußballspiel kam es Anfang Juli 1944 in Lemberg. Erstmals spielte eine deutsche Soldatenmannschaft auf dem Platz des deutschen Vereins Vis gegen eine polnische Stadtauswahl. Die Polen gewannen die Begegnung vor 7.000 Zuschauern mit 4:2. Die Untergrundpresse aber beschuldigte die polnischen Spieler, sie hätten sich für den verzweifelten Versuch der deutschen Besatzer vereinnahmen lassen, ein deutsch-polnisches Bündnis gegen die immer näher rückenden Bolschewisten zu schmieden (19).
Am Ende des Zweiten Weltkriegs beschlossen die Alliierten auf ihrer Konferenz in Jalta die Neuordnung Europas. Polens Grenzen wurden nach Westen verschoben, Lemberg wurde endgültig zu einer sowjetischen Stadt, was dazu führte, dass ein Großteil der polnischen Einwohner Lemberg verließ. Unter ihnen war auch Włodzimierz Chomicki, der Torschütze des goldenen Tors im ersten Fußballspiel der Stadt, der ins zuvor deutsche Niederschlesien zog. In Erinnerung an ihre verlorene Heimat gaben die neuen polnischen Bewohner in den ehemaligen deutschen Gebieten ihren neuen Fußballklubs häufig die wohlklingenden Lemberger Vereinsnamen oder deren traditionellen Vereinsfarben. Am bekanntesten sind Polonia Bytom, Pogoń Szczecin oder Lechia Gdańsk. Die jüdische Fußballtradition Lembergs hingegen ging gänzlich verloren (20). Und im sowjetischen Fußball blieb die seit 1945 westukrainische Stadt eher eine unbedeutende Fußballprovinz (einziger nennenswerter Erfolg war der Sieg von Karpaty L´viv im Finale des sowjetischen Pokals 1969).
Die Kunst der Geschichtsinterpretation
Das Verhältnis von Fußball und Nation in Mittelosteuropa ist noch immer relativ unerforscht. Während die Nationalismusforschung den Fußball weitgehend außer Acht lässt, kratzt die Fußballgeschichtsschreibung vielfach nur an der sportlichen Oberfläche. Dabei ist die Geschichte des Lemberger Fußballs vor dem Zweiten Weltkrieg nicht nur für Sportbegeisterte und Nostalgiker von Interesse. Seit einigen Jahren erinnert man sich in Lemberg der eigenen Fußballvergangenheit und nutzt die Fußballvergangenheit der Stadt zur Mythenbildung und national gefärbten Geschichtsinterpretation. Das zeigt sich zum Beispiel am polnisch-ukrainischen Streit, welcher Nation nun das erste Fußballspiel der Stadt gehört und an der Neugründung des polnischen Traditionsvereins Pogoń Lwów durch die polnische Minderheit in Lemberg.
In Polen und der internationalen Fußballwelt gilt das Spiel vom 14. Juli 1894 zwischen den beiden „Sokół“-Mannschaften aus Lemberg und Krakau als das erste polnische Fußballspiel. Seit einigen Jahren aber reklamiert man auch in der Ukraine diese Begegnung für sich als Beginn des ukrainischen Fußballs. Am 15. Juni 1999 erklärte der Ukrainische Fußballverband offiziell den 14. Juli zum Beginn des Fußballs in der Ukraine und informierte darüber auch die internationalen Verbände Fifa und Uefa (21). Und um diese Sichtweise zu untermauern, errichtete man 2004 im Lemberger Stryjski-Park ein großes Denkmal. Die Stele ist u.a. dem 110. Jahrestag des ukrainischen Fußballs gewidmet und erklärt Lemberg zum „Vaterland des ukrainischen Fußballs“. Auf die Spitze trieb die Geschichtsinterpretation allerdings eine große Brauerei des Landes. Eigens zum 115-jährigen Jubiläum des ersten Fußballspiels brachte sie ein Bier auf den Markt. In der entsprechenden Werbung hieß es, die Ukraine habe 1894 Polen mit 1:0 besiegt.
Diese doch sehr eigenwillige Geschichtsinterpretation wird zum einen damit begründet, dass die Begegnung nicht als „polnisches Spiel“ gelten könne, da Polen zu dieser Zeit gar nicht existiert habe. Außerdem sei es damals gar nicht so einfach möglich gewesen, zwischen Polen und Ukrainern zu unterscheiden. Zum anderen habe das Spiel auf „ethnisch ukrainischem Boden“ stattgefunden – und müsse deshalb als Beginn des ukrainischen Fußballs gelten (22).
In dieser Argumentation zeigt sich die hohe Bedeutung von Lemberg für die ukrainische Nationalbewegung und das nationale Selbstverständnis. Um Lembergs Rolle als Hort der ukrainischen Nationalbewegung zu unterstreichen, wird sie auch zur Wiege des ukrainischen Fußballs erklärt. Tatsächlich aber begann man in vielen Regionen auf dem heutigen Gebiet der Ukraine unabhängig voneinander Fußball zu spielen. In der Schwarzmeerstadt Odessa spielten englische Angestellte der Indo-Europäischen Telegrafenlinie schon Ende der 1870er Jahre Fußball; in Kiew waren es tschechische Fabrikarbeiter und in Czernowitz deutsche Studenten, die um die Jahrhundertwende den Fußball in die Region brachten.
Allerdings ist auch die polnische Lesart des ersten Fußballspiels eine durchaus zweckdienliche Konstruktion. Denn Fußball wurde in Lemberg und Krakau bereits einige Jahre zuvor gespielt. Und das sechsminütige Gekicke im Lemberger Stryjski-Park kann schwerlich als Durchbruch des nationalen Fußballs gelten, was allein schon die Tatsache zeigt, dass die ersten polnischen Fußballvereine erst gut zehn Jahre später gegründet wurden. Zudem fand dieses erste Fußballspiel nicht nur auf dem Treffen der polnischen Sokol-Mannschaften statt, sondern war auch ein Beitrag auf der 1894 in Lemberg stattfindenden galizischen Landesausstellung, die 1,15 Millionen Besuchern ein aufwendig inszeniertes Panorama polnischer Kultur bot (23). Von Anbeginn war das Spiel demnach Teil einer Demonstration polnischer Dominanz in Lemberg.
Ein anderes Beispiel dafür, wie sich heute auf die Lemberger Fußballgeschichte bezogen wird, ist die Wiederbelebung des polnischen Traditionsklubs Pogoń Lwów. Im Jahr 2009 entsann sich die in Lemberg lebende polnische Minderheit der einstigen Vormachtstellung Lembergs im polnischen Fußball und gab ihrem mit Unterstützung des polnischen Konsulats neu gegründeten Fußballklub den Namen Pogoń Lwów. Geschickt greift der Verein den Mythos der besten polnischen Vorkriegsmannschaft auf und vermarktet sich als Wiederbelebung des großen Pogoń. Die staatliche polnische Eisenbahn fungiert als Hauptsponsor (24) und polnische Fußballfans sammelten unter medialer Aufmerksamkeit Spenden für den jungen Lemberger Verein. Noch spielt Pogoń in der vierten ukrainischen Liga. Aber nur wenige der jungen Spieler haben polnische Wurzeln, ihre Ambitionen sind dafür umso größer, denn Pogoń Lwów strebt danach, sich in Richtung professionellen Fußballs weiterzuentwickeln (25), wofür der Rekurs auf die polnische Vorkriegstradition sicher ungemein hilfreich ist.
Fazit
Fußball und Nation in Lemberg waren seit Anbeginn eng verwoben. Die Kategorie der „Nationalität“ wurde zu einem prägenden Faktor in der Entwicklung des Lemberger Fußballs, denn während weiter östlich Vereine meist entlang von Betriebszugehörigkeiten gegründet wurden und weiter westlich Vereine Sammlungsort eines bestimmten sozialen Milieus waren, dominierte in Lemberg das Prinzip der nationalen Volkszugehörigkeit bei der Vereinsgründung. Die Ursache dafür liegt darin begründet, dass Turn- und Fußballvereine in Lemberg vornehmlich auch ein Ort zur Entfaltung, Pflege und Stärkung des nationalen Selbstbewusstseins waren. Bis heute dient die Interpretation der Lemberger Fußballgeschichte in Polen und der Ukraine dazu, die jeweils eigene, recht unterschiedliche nationale Erzählung der Stadtgeschichte Lembergs zu unterstreichen. Die gemeinsam von Polen und der Ukraine ausgetragene Fußball-Europameisterschaft 2012, bei der Lemberg eine der Gastgeberstädte war, hat dabei wenig an der divergierenden Interpretation der Fußballgeschichte Lembergs in Polen und der Ukraine geändert.
Anmerkungen
1 Frühere Versionen dieses Textes erschien in: Inter Finitimos – Jahrbuch zur deutsch-polnischen Beziehungsgeschichte, 9 (2011), S. 48-56, sowie in: Dialog – Deutsch-Polnisches Magazin, Nr. 99, 2012, S. 30-37.
2 Roth, J.: Sehnsucht nach Paris, Heimweh nach Prag. Köln 2006.
3 Nach der österreichischen Volkszählung von 1900 waren von den 160.000 Einwohnern Lembergs rund 45.000 Juden und 30.000 Ukrainer (Ruthenen). Zu den höheren Ämtern in der Stadt hatten Juden und Ruthenen allerdings kaum Zutritt. Vgl. Pollack, M.: Galizien. Eine Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina. Frankfurt am Main / Leipzig 2001, S. 216.
4 Vgl. Matusik, P.: Der polnische „Sokół“ zur Zeit der Teilung und in der II. Polnischen Republik, in: Blecking, D. (Hrsg.): Die slawische Sokolbewegung. Beiträge zur Geschichte von Sport und Nationalismus in Osteuropa. Dortmund 1991, 104-135.
5 Cenar, E.: Gry gimnastyczne młodzieży szkolnej. Lwów 1891.
6 Vgl. Hałys, J.: Polska piłka nożna. Kraków 1986, S. 13f.; Lenz, B.: Wisła und Cracovia im „Heiligen Krieg“. Die Anfänge eines polnischen Traditionsderbys 1906-1927. In: Dahlmann, D./Hilbrenner, A. (Hrsg.): Überall ist der Ball rund. Zur Geschichte und Gegenwart des Fußballs in Ost- und Südosteuropa. Die zweite Halbzeit. Essen 2008, S. 89-114.
7 Vgl. Hałys, Polska piłka nożna, S. 14f.; Mychaljuk, J: Tajemnyci l’vivs’koho futbolu. L’viv 2004, S.19-27.; Snjadanko, N.: „Karpaty hat wieder verloren“. In: Zahdan, S. (Hrsg.): Totalniy Futbol – Eine polnisch-ukrainische Fußballreise. Berlin 2012, S. 129-132.
8 Zur sportlichen Geschichte der Lemberger Fußballvereine vgl. Gowarzewski, A. (Hrsg): Lwów i Wilno w ekstraklasie. Dzieje polskiego futbolu kresowego. Katowice 1997.
9 Vgl. o.A., Hasmonea Lwów. In: Gowarzewski, Lwow i Wilno w ekstraklasie, S. 92-107; Urban, T.: Schwarze Adler, weiße Adler. Deutsche und polnische Fußballer im Räderwerk der Politik. Göttingen 2011, S. 97.; Jaremko, I.: Hasmonea – minulo vshe sto rokiv, http://wz.lviv.ua/articles/72348 (Zugriff am 11.08.2012).
10 Vgl. Pauk, O.: Ukraina Lwów. In: Gowarzewski, Lwow i Wilno w ekstraklasie, S. 114-116.
11 Döblin, A.: Reise in Polen. München 2006, S. 191.
12 Vgl. o.A. Ukraina Lwów, S. 114.
13 Vgl. Mychaljuk, Tajemnyci, S. 49; o.A.: Pogoń Lwów,. In: Gowarzewski, Lwow i Wilno w ekstraklasie, S. 18-58.
14 Vgl. o.A., Hasmonea Lwów, S. 95-97.
15 Vgl. Mychaljuk, Tajemnyci, S. 72-127.
16 Vgl. Eichel. M./Müller, E.: Der Turnverein „Jahn“ und der Sportklub „Vis“ in Lemberg. In: Zeitweiser der Galiziendeutschen 33 (1995), S. 98-106; Müller, S.: Von der Ansiedlung bis zur Umsiedlung. Das Deutschtum Galiziens, insbesondere Lembergs 1772-1940. Marburg/Lahn 1961, S. 182-184.
17 Vgl. Mychaljuk, Tajemnyci, S. 128-133.
18 Vgl. Mychaljuk, Tajemnyci, S. 134-140.
19 Vgl. Tuszyński, B.: Za cenę życia. Sport polski walczącej 1939/1945. Warszawa 2006, S. 123f.
20 Erinnerungen an den jüdischen Klub Hasmonea Lwów sind festgehalten in: Bass u.a., Hasmonea Lwów 1908-1961. Tel Aviv 1961.
21 Vgl. Mychaljuk, Tajemnyci, S. 15.
22 Interview mit Jaroslav Gris’o, Vorsitzender des Lemberger Fußballverbandes, 10. August 2011.
23 Vgl. Borodziej, W.: Geschichte Polens im 20. Jahrhundert. München 2010, S. 52.
24 Vgl. http://www.pogon.lwow.net.
25 Interview mit dem Vereinsvorsitzenden Marek Horbań, 07. August 2011.
Erschienen in: Diethelm Blecking, Lorenz Peiffer, Robert Traba (Hg.): Vom Konflikt zur Konkurrenz: Deutsch-polnisch-ukrainische Fußballgeschichte, Verlag Die Werkstatt, Göttingen, S. 192-204, 2014.