Von Martin Brand und Robert Kalimullin.
Przemysław Piwowarski sieht aus, wie man sich einen polnischen Fußball-Hooligan vorstellt. Er ist klein, aber kräftig gebaut. Die Haut gebräunt. Die Haare trägt er kurz geschnitten, um den Hals ein silbernes Kettchen. „Annihilate the weak“ (Vernichte die Schwachen) steht auf seinem Everlast-Shirt, dazu trägt er eine kurze Hose derselben Marke und weiße Turnschuhe. Seine Augen kneift er immer etwas zusammen. Doch er ist hell wach und aufmerksam. Piwowarski aber ist kein Hooligan, er ist Vorsitzender der Fan-Vereinigung „Wielki Śląsk” des polnischen Meisterschaftszweiten Śląsk Wrocław.
In dieser Funktion muss er in jüngster Zeit häufig Fragen über Gewaltexzesse im polnischen Fußball beantworten, seit Anfang Mai das Pokalfinale von Randalen überschattet wurde. „Fußballfans sind keine Verbrecher“, wehrt sich Piwowarski dann gegen allzu pauschale Anschuldigungen. Umso mehr freut sich der Mittzwanziger, einmal über ein anderes Thema sprechen zu dürfen.
Es geht um seine Heimatstadt Wrocław (Breslau), und es geht um die ukrainische Stadt Lemberg (ukrainisch Lviv, polnisch Lwów). Beide sind als Austragungsort der Fußball-Europameisterschaft 2012 vorgesehen. Und beide Städte verbindet eine gemeinsame Geschichte. „Hier in Wrocław und im größten Teil der Region Schlesien leben Menschen, die ihre Wurzeln in Lemberg und der Umgebung von Lemberg haben. Auch meine Oma ist eine Lembergerin. Nach dem Krieg kam sie hierher,“ erzählt Piwowarski.
Weniger bekannt als das Schicksal der deutschen Breslauer, die nach 1945 flohen oder vertrieben wurde, ist hierzulande die Geschichte der neuen Einwohner des polnischen Wrocław. Auch viele von ihnen mussten ihre alte Heimat verlassen, die nach dem Willen Stalins fortan Teil der ukrainischen Sowjetrepublik war. „Hier in Breslau haben sich Traditionen aus dem Lemberg der Vorkriegszeit erhalten“, erzählt Piwowarski. Sinnbild dafür ist das alte Lemberger Denkmal des Dichters Aleksander Fredro, das heute auf dem Marktplatz in Wrocław steht.
In Lemberg liegen auch die Wurzeln des polnischen Fußballs. 1894 fand dort mit dem Match gegen Krakau das erste Spiel zwischen zwei polnischen Städten in der Geschichte statt. Und mit Pogoń Lwów kommt eine der traditionsreichsten polnischen Mannschaften aller Zeiten aus Lemberg. Mit dem Kriegsausbruch 1939 endete die Geschichte des mehrfachen polnischen Vorkriegsmeisters zunächst. 70 Jahre später wurde der Verein von Lemberger Polen wiederbelebt.
Heute ist Pogoń Lwów ein ambitionierter Amateurverein, der in der vierten ukrainischen Liga kickt. Und Unterstützung in Polen erhält. Der Breslauer Abgeordnete Michał Jaros hielt sogar eine Rede im polnischen Parlament, dem Sejm in Warschau, um sich für den polnischen Traditionsclub in der Ukraine stark zu machen. Und die Fans von Śląsk Wrocław sammelten während eines Ligaspiels im Mai Geld für die Fußballerkollegen in Lemberg.
Die Wiedergründung von Pogoń sei bei aller politischen Unterstützung „eine Initiative von unten“, von den Fans gewesen, erklärt Piwowarski. Und nur so habe sie funktionieren können, denn offizielle Maßnahmen zur Wahrung polnischer Traditionen würden in der heutigen Ukraine immer noch häufig misstrauisch beäugt.
Dass die gemeinsame Geschichte ebenso spalten wie verbinden kann, das gilt für die polnisch-ukrainischen Beziehungen ebenso wie für die polnisch-deutschen. Und so drängt sich die Frage auf, was wäre, wenn Deutsche im polnischen Wrocław ihre alten Vereine, die da Hertha oder Germania hießen, wiederbeleben würden. Piwowarski zögert mit der Antwort, weicht aus. Die deutsche Minderheit in Breslau sei ja zahlenmäßig viel geringer als die polnische in Lemberg.
Doch nach dem Ende des Gesprächs will Piwowarski seinen Gästen noch etwas zeigen, bittet sie in sein Büro neben dem Stadion. Dort hängt – zwischen zahllosen Wimpeln befreundeter Fußballvereine – eine alte, eingerahmte Landkarte. „Provinz Schlesien“ steht darüber, auf Deutsch. Piwowarski lächelt. Breslau, Wrocław, Lemberg – all das sind Facetten der Identität des jungen Mannes. Eines jungen Mannes, der einen ganz anderen Eindruck vom polnischen Fußball hinterlässt als die Bilder von gewalttätigen Hooligans.
Dieser Beitrag wurde gefördert durch ein Recherchestipendium der Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit.
Erschienen in: Sächsische Zeitung, 01.08.2011