Armut in Russland

„Die Armut in Russland ist eine Schande.“ Nehme sie weiter zu, könne dies zu einer „sozialen Explosion“ führen. Diese Sorge äußerte der liberale Wirtschaftswissenschaftler und langjährige russische Finanzminister Alexei Kudrin im vergangenen Juni. Da konnte er noch nicht wissen, dass Wochen später Tausende Menschen aus ganz anderen Gründen auf die Straßen Moskaus ziehen würden – nämlich, um für ihr Recht auf faire Wahlen und gegen willkürliche Staatsgewalt zu demonstrieren. Soziale Themen rückten daher im Sommer in den Hintergrund.

Gleichwohl kommt der sozialen Frage auch in Russland eine enorme Bedeutung für die Stabilität des politischen Systems zu. Das zeigte sich im Sommer 2018, als über Wochen die Menschen landesweit gegen eine drastische Anhebung des Rentenalters protestierten und es den massiven Einsatz politisch-administrativer Technologien bedurfte, um die Proteste einzuhegen. Wie ernst also muss man Kudrins Warnung vor der sozialen Sprengkraft der gegenwärtigen Armutsentwicklung in Russland nehmen?

Leben jenseits des Existenzminimums

„Russland ist ein reiches Land mit armer Bevölkerung“, sagt die Armutsforscherin Natalja Tichonowa. Wie weit Armut in der russischen Gesellschaft verbreitet und wie ausgeprägt sie ist, lässt sich jedoch nicht so einfach beziffern. Nimmt man die Zahlen des russischen Statistikamts Rosstat, ist die Armutsquote in Russland zwischen den Jahren 2000 und 2013 erheblich gesunken: von 29 auf 10,9 Prozent. Besonders in den wirtschaftlichen Boomjahren bis 2007 ging die Zahl der Menschen mit einem Einkommen unterhalb des gesetzlich definierten Existenzminimums stark zurück.

Infolge der Wirtschaftskrise von 2014 stieg der Anteil armer Menschen in Russland wieder an, und zwar auf 13,2 Prozent im Jahr 2017. Nach den neuesten vorläufigen Zahlen für 2018 liegt die Armutsquote bei 12,9 Prozent. Es ist also ein leichter Rückgang zu verzeichnen. In dieses Bild passt auch die Entwicklung der Realeinkommen, die in den Jahren 2014 bis 2017 erstmals unter der Regentschaft Putins rückläufig waren, im Jahr 2018 hingegen wieder leicht anstiegen.

Regional stellt sich das Bild der Armut indes sehr unterschiedlich dar: In den beiden Wirtschaftsmetropolen Moskau und St. Petersburg liegt die Armutsquote gegenwärtig bei 7,2 Prozent, während im Nordkaukasus und an der mongolischen Grenze zum Teil mehr als jeder Fünfte über weniger als das Existenzminimum verfügt.

Größere subjektive Armut

Legt man nicht das Existenzminimum zugrunde, sondern befragt die Menschen nach ihrer Wahrnehmung, erscheint Armut als wesentlich verbreiteteres Phänomen. Knapp zwei Drittel aller Haushalte geben laut Rosstat an, sich keine langlebigen Konsumgüter leisten zu können und fast jedem sechsten Haushalt reicht das Einkommen lediglich für Nahrungsmittel, nicht jedoch für Kleidung oder Wohnnebenkosten.

Für Aufregung sorgte jüngst eine Befragung von Rosstat zur finanziellen Lage der Haushalte, wonach 35,4 Prozent es sich nicht leisten können, jedem Familienmitglied zwei bequeme und der Jahreszeit entsprechende Paar Schuhe zu kaufen.

Schnell wies Rosstat darauf hin, dass sich die Lebensqualität im Vergleich zu 2016 dennoch erheblich verbessert habe. Dem widerspricht jedoch eine andere Befragung von Rosstat zur materiellen Lage der Menschen in Russland. Nimmt man die Antworten „schlecht“ und „sehr schlecht“ als Grundlage, lag die subjektive Armut zuletzt bei 26,5 Prozent – 3,2 Prozent höher als im Vorjahreszeitraum.

Wirtschaftswachstum steigern, Armut halbieren

Wie auch immer man Armut in Russland erfasst, feststeht: Sie ist deutlich zu hoch. So jedenfalls die Einschätzung des russischen Präsidenten, der im Mai 2018 per Dekret von der Regierung forderte, die Armut bis 2024 zu halbieren. Tatsächlich hat Russland in den letzten Jahren eine ganze Reihe sozialpolitischer Maßnahmen zur zielgerichteten Unterstützung von Bedürftigen ergriffen.

Lag der Mindestlohn jahrelang teilweise deutlich unterhalb der Armutsgrenze, so wird er seit 2019 erstmals fest an die Höhe des Existenzminimums gekoppelt. Einkommensschwache Familien erhalten seit 2018 eine finanzielle Unterstützung in Höhe des regionalen Existenzminimums für Kleinkinder – bedürftige kinderreiche Familien in vielen Regionen schon seit 2012. Bereits seit 2010 werden Altersrenten unterhalb der gesetzlichen Armutsgrenze aufgestockt. In seiner diesjährigen Botschaft an die Föderalversammlung versprach Putin zudem, die bisher eher marginalen Programme der aktivierenden Sozialhilfe binnen fünf Jahren so auszudehnen, dass mehr als neun Millionen Menschen davon profitieren.

Über diese zielgerichtete Unterstützung Bedürftiger hinaus, die weniger als das Existenzminimum zur Verfügung haben, wird eine umfangreiche gesellschaftliche Umverteilung von Einkommen und Vermögen indes nicht in Betracht gezogen. Zwar existiert das Versprechen, das Rentenniveau spürbar anzuheben und auch die Fortführung des Mutterschaftskapitals – eine zweckgebundene einmalige Leistung zur Geburt des zweiten Kindes – hat eine nicht zu unterschätzende Umverteilungswirkung. Doch an der einheitlichen Einkommenssteuer von 13 Prozent wird nicht gerüttelt – und das, obwohl die Einkommen seit Jahren sehr stark ungleich verteilt sind, von den Vermögen ganz zu schweigen.

Alle Hoffnung im Kampf gegen Armut scheint hingegen auf einer kräftig steigenden Wirtschaftsleistung zu liegen. In seiner Botschaft an die Föderalversammlung 2018 forderte Putin: „Russland muss sich unter den fünf größten Volkswirtschaften der Welt klar behaupten, und sein Pro-Kopf-BIP muss bis Mitte des nächsten Jahrzehnts um 50 Prozent steigen.“ Es sind die Erfahrungen der 2000er Jahre, die lehren: Wenn die Wirtschaft boomt, sinkt die Armut. Auf diesen Mechanismus will man sich auch weiterhin verlassen.

Armut als sozialer Sprengstoff?

Dass Armut in Russland zu einer „sozialen Explosion“ führen könne, wie Kudrin fürchtet, erscheint unwahrscheinlich. Zwar ist nach Umfragen des unabhängigen Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum die Bereitschaft der Menschen in Russland, an ökonomisch begründeten Protesten teilzunehmen, seit den Demonstrationen gegen ein höheres Rentenalter im Sommer 2018 anhaltend und ungewöhnlich hoch. Ohne einen konkreten sozialen Konflikt aber wird das vorhandene Protestpotential nicht aktiviert werden – und ein solcher ist momentan nicht in Sicht. Wenn also die russische Wirtschaft nicht unerwartet in eine erneute Rezession gerät, wird die Armut weiter verwaltet werden und die Hoffnung glimmen, dass mit zunehmender Wirtschaftskraft auch der Lebensstandard steigt.

Martin Brand ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich 1342 »Globale Entwicklungsdynamiken von Sozialpolitik«, Forschungsstelle Osteuropa an der Universität Bremen. Er promoviert zur sozialpolitischen Entwicklung in Russland, Belarus und der Ukraine. Derzeit ist er als Gastwissenschaftler am ZOiS.

Erschienen in: ZOiS Spotlight 36/2019.

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