Belarus – eine Reise

Im Winter 2007 bin ich mit einem Stipendium der Heinz-Schwarzkopf-Stiftung durch Belarus gereist. Entstanden ist dabei eine kleine Reportage, über das Leben der Menschen, ihre Schwierigkeiten im Alltag, über ihre Hoffnungen, Wünsche und Ängste. Den ganzen Text gibt es auch als PDF oder Ebook (epub).

Belarus – eine Reise

Terespol

Reiseroute durch Belarus

Reiseroute

Belarus – die letzte Diktatur Europas! Alle Berichte über das kleine Land zwischen Polen und Rußland fangen bei uns so an. Wer etwas über Weißrußland zu sagen hat, muß das wohl schreiben. Ohne geht es nicht. Hier Europa, Hort des Friedens, der Freiheit und natürlich der Menschenrechte – dort Belarus, Diktatur und Unfreiheit.

Ich befinde mich im äußersten Osten dieses Europas, im polnischen Terespol, dem letzten Außenposten der Europäischen Union. Kurz hinter dem kleinen Städtchen fließt der Westliche Bug. In der Mitte seines Flußbettes endet das, was wir als „Europa“ bezeichnen und beginnt das, was wir gemeinhin eher abfällig den „Osten“ nennen (je nach Standpunkt beginnt dieser auch schon weit früher hinter der Elbe bzw. hinter der Oder).

Am Bahnhof steht die blau gestrichene Elektritschka bereit, die mich ans andere Ufer des Bugs in die Stadt Brest bringen soll. Einige ältere Frauen und Männer steigen ein. Sie haben viel Gepäck bei sich und hieven ihre großen blau-weiß oder rot-weiß karierten Kunststofftaschen in den Zug. Im Waggon, in den lediglich ein paar spartanische Holzbänke eingebaut sind, ist viel Platz für das Gepäck. Die Menschen im Zug scheinen sich alle gut zu kennen. Sie fahren ja die Strecke zwischen dem belarussischen Brest und dem polnischen Terespol auch regelmäßig, um ihren kleinen Grenzhandel zu betreiben. Touristen oder andere Reisende gibt es außer mir nicht im Zug. Die überqueren die Grenze zumeist mit den großen internationalen Zügen, die von Warschau oder Berlin bis nach Minsk oder Moskau fahren, und deren Fahrgestelle in Brest auf die russische Spurbreite gewechselt werden müssen. Nachdem die polnischen Grenzbeamten und Zöllner durch den Zug gegangen sind, beginnen die älteren Frauen im Waggon ihre aus Polen mitgebrachten Waren zu verstecken. Damenstrümpfe und allerlei andere Textilien befestigen sie gekonnt mit Klebeband am ganzen Körper. Tatsächlich fällt bei den dicken Frauen kaum auf, wie viel Schmuggelware sie unter ihrer Kleidung tragen. Nachdem alle Frauen ihre Waren gut versteckt haben, diskutieren sie die neuen Visaregelungen. Niemand weiß etwas genaues. Nur Gerüchte. Jemand erzählt, ab Juli solle ein Visum nach Polen sechzig Euro kosten, denn Polen trete dem Schengenraum bei. Bisher sind die Visa für die Belarussen sehr günstig und viele der täglichen Grenzgänger besitzen mehrere Pässe und Visa, um mehrmals am Tag die Grenze passieren zu können. Eine Frau aus dem Zug habe die Zöllner gefragt, doch die konnten oder wollten ihr keine genaue Auskunft geben. „Wir werden sehen was kommt“ sagt sie, ohne daß sich eine von den Kleinhändlerinnen tatsächlich vorstellen möchte, was passiert, wenn das Visum sechzig Euro kostet. Es wäre das Ende ihres Grenzverkehrs, der Verlust ihrer täglichen Arbeit.

Nach gut einer halben Stunde Fahrt steigen wir in Brest aus und alles sammelt sich in einem großen Saal, wo nun der belarussische Zoll seine Arbeit verrichtet. Damit die Zöllner nicht allzu streng sind, schieben einige der Frauen den Zollbeamten kleine Geschenke in Plastiktüten zu. Leider kann ich nicht erkennen, was die Frau vor mir der Zöllnerin so unauffällig über den Tisch gereicht hat, und zu fragen getraue ich mich nicht. Es scheint ein eingeübtes Spiel zu sein, niemand verliert ein Wort, kein Gesichtsausdruck ändert sich, kein Stimmungswandel ist zu bemerken. Mich als Touristen lassen sowohl die Grenzer als auch die Zöllner unbehelligt passieren. Nur auf die Pflicht, mich binnen drei Tagen bei der Polizei zu registrieren, weisen sie mich hin.

Nun befinde ich mich in Belarus – ein Land, das viele ja doch nur für einen Teil Rußlands halten. Belarus ist ein kleines Land, mit zehn Millionen Einwohnern, gelegen zwischen dem Riesenreich Rußland im Osten und der selbst ernannten Weltmacht Europa im Westen. Was treibt mich hier her? Was will ich hier? Ich war doch schon ein paar mal hier. Trotzdem kenne ich das Land kaum. In letzter Zeit wird viel über das kleine Land bei uns geredet und geschrieben. Aber das ist immer ein ganz anderes Belarus als das, welches ich kennengelernt habe. Ich will weg von diesen Diskussionsveranstaltungen und ihren Referenten, weg von diesen klugen Analysen über das Land, will hin zu den Menschen und das, was sie wirklich bewegt. Welche Erwartungen, Hoffnungen, Ängste hegen sie gegenüber ihren westlichen Nachbarn? Verbinden sie mit Europa Freiheit, Wohlstand und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft oder dominiert die Angst vor einer all zu radikalen freien Marktwirtschaft, vor Arbeitsplatzverlusten und die Sorge, nicht mithalten zu können? Ist für die Belarussen auf der anderen Seite Rußland der große slawische Bruder, mit dem viele von ihnen nicht nur Sprache, Kultur und Geschichte teilen? Oder wird das Land als dominanter, schier übermächtiger Feind aus dem Osten wahrgenommen, der dem kleinen Nachbarn das Recht auf Eigenständigkeit und eine europäische Entwicklung nimmt und schon immer nahm? Oder gibt es eine Zweiteilung des Landes in einen pro-russischen Osten und einen pro-europäischen Westen wie es häufig der Ukraine nachgesagt wird? Was halten die Belarussen von den als Integrationskonkurrenz bezeichneten Versuchen EU-Europas und Rußlands, Macht und Einfluß über ihr kleines Land zu gewinnen? Interessiert das alles überhaupt? Wo sehen die Menschen in Belarus ihre Zukunft? Man kennt ein Land natürlich nicht, wenn man es nur bereist, ohne darin zu leben, sagt Tucholsky. Aber vielleicht kann man es so wenigstens etwas besser verstehen.

Brest

Brest. In ihrer fast 1000jährigen Geschichte war die Stadt mal russisch, mal litauisch, mal polnisch, gehörte zur Polnisch-Litauischen Union, zum Zarenreich, zur Rzeczpospolita, war seit 1939 Teil der Sowjetunion und während des Zweiten Weltkriegs vier Jahre von den Deutschen besetzt. Seit gut 15 Jahren liegt Brest im erstmals unabhängigen Weißrußland. Bekannt wurde die Stadt einst unter ihrem Namen Brest-Litowsk, als hier im März 1918 der Friedensvertrag zwischen der Sowjetunion und den Mittelmächten geschlossen wurde. Viel zu sehen ist von der wechselvollen Geschichte der Stadt jedoch nicht. Ich spaziere durch das Stadtzentrum mit seinen sowjetgrauen zweistöckigen Häusern. Zwischen zwei Welten kann ich wählen: Poesie oder Sowjetkommunismus. Laufe ich die Straßen von Ost nach West begegne ich Adam Mickiewicz, Alexander Puschkin, Wladimir Majakowskij und Nikolaj Gogol. Sie alle gaben ihren Namen her, um die Straßen zu benennen. Nur weiter südlich schleicht sich Felix Dserschinski, Gründer der sowjetischen Geheimpolizei Tscheka, unter die großen Dichter. Um aber von einem Poeten zum nächsten zu kommen, muß ich unweigerlich die Straßen in Nord-Süd Richtung nutzen. Und so treffe ich zunächst auf Lenin leibhaftig, der auf einem hohen Sockel steht und der klirrenden Kälte trotzt. Vor ihm seine Straße, dann sein Platz, parallel dazu die Straßen von Karl Marx, der Komsomolzen, der Partisanen, der Kosmonauten, der sowjetischen Grenzer, die irgendeines ZK Mitglieds, die eines Helden der Sowjetunion und schließlich die Sowjet-Straße. Wer denkt sich so etwas aus? Ob sich hier Schöngeister und Parteisoldaten in der Stadtverwaltung gestritten haben und am Ende einen Kompromiß fanden? Die Sowjet-Straße jedenfalls ist die Fußgängerzone der Stadt, sozusagen ihre Flaniermeile. Viel schöner und einladender als der Rest von Brest ist sie jedoch auch nicht. Die Restaurierung der Innenstadt hat hier gerade erst begonnen. Lokale und Cafés gibt es kaum und einladende noch viel weniger. Dennoch, mit kundiger Hilfe finde ich eine (wohl die einzige) gemütliche Studentenkneipe.

Etwas außerhalb des Zentrums liegt das Wahrzeichen der Stadt – die Brester Festung. Hier, wo heute eine monumentale Gedenkstätte in den Himmel ragt, hat vor sechsundsechzig Jahren die Rote Armee in einem heroischen Kampf die Festungsanlage der Stadt einen Monat lang gegen die Faschisten verteidigt – so berichten jedenfalls die Geschichtsbücher. Junge Brester Historiker erzählen mittlerweile eine andere, inoffizielle Version der Ereignisse. Demnach hätten die deutschen Truppen gar nicht versucht, die Festung mit Gewalt einzunehmen. Als die Deutschen auf den ersten Widerstand gestoßen seien, hätten sie die Festung schlicht umzingelt, von der Außenwelt abgeschlossen und dort ihre Schießübungen veranstaltet. Einst in riesige, überdimensionierte Betonklötzer gemeißelt, wird nun auch in Belarus vorsichtig und noch sehr zaghaft am Heldenstatus der ruhmreichen Sowjetarmee gekratzt. Hoffentlich stellen sie nicht bald wie die Esten SS-Denkmäler auf, um ihre Abneigung gegen alles sowjetische/russische zu demonstrieren. Noch aber läuft man zur Festung über die Chaussee von Marscherow, Held der Sowjetunion, und verläßt sie über die Straße zu Ehren der Helden, die einst die Festung verteidigten.

Vital wird mich für ein paar Tage in Brest beherbergen. Wir kennen uns noch nicht, dennoch erkennen wir uns im Wartesaal des Bahnhofs sofort. Er ist von großer, kräftiger Figur, etwa 30 Jahre alt und gleicht mit seinen langen, schwarzen Haaren und seiner Sonnenbrille eher einem Italiener als meiner Vorstellung von einem typischen Belarussen. Seine Frau Natascha erwartet uns in ihrer Wohnung unweit des Stadtzentrums. Ihr dicker Bauch verrät, daß ihre kleine Familie bald Nachwuchs erwartet. Beide haben englische und belarussische Philologie studiert und sollten nach Beendigung der Ausbildung in der Schule unterrichten. Doch die Arbeit als Lehrer ist nicht sehr prestigeträchtig und obendrein schlecht bezahlt. Trotzdem hat Natascha anfangs als Lehrerin gearbeitet; nach zwei Jahren ist sie aber zu einer Möbelfabrik gewechselt, wo sie mit ihren Englischkenntnissen für die Kommunikation mit den ausländischen Kunden zuständig ist. Vital hingegen hat sich als Web-Designer selbständig gemacht und arbeitet von zu Hause vornehmlich für amerikanische Kunden, denn für die ist seine Arbeit unschlagbar günstig.

Vitals größter Traum ist es, bald nach Kanada auszuwandern. Es ist mehr als ein Traum, es ist sein fester Entschluß. Dort soll sein Kind aufwachsen. Kanada sei ein realistisches Ziel, da dort die Einwanderungsbestimmungen nicht sehr strikt sind. Neuseeland oder Irland wären ihm auch recht. Wichtig sei, daß es ein englischsprachiges Land ist, damit sie mit der fremden Sprache nicht bei Null anfangen müssen. „Mit Belarus wird es immer weiter bergab gehen“, meint Vital. Er könne hier nicht so Leben wie er gerne würde, durch seine Arbeit seiner Familie nicht das bieten was sie brauche und was er ihr geben möchte. Vielleicht haben die beiden etwas mehr als den Durchschnittslohn von 250 Euro im Monat zur Verfügung – bei Preisen im Supermarkt, die den unsrigen durchaus ähnlich sind, kann ich seine Sorgen verstehen. „Aber nach Deutschland oder Schweden würde ich nicht auswandern!“ Viel zu sehr mische sich der Staat dort in das Leben der Menschen ein. „Ich brauche Freiheit – und die behindert der Staat dort mit seinen ganzen Regelungen.“ Natascha hingegen fühlt sich wohl in Brest. Ginge es nach ihr, würden sie nirgendwohin auswandern. Sie ist in Brest geboren, dort aufgewachsen. Sie fühlt sich wohl dort, ist nie sehr weit weg gewesen. Eigentlich fehle ihr nichts im Leben. Doch sie weiß, daß es Vital nicht in Belarus hält.

Widersprechen sich Emigration und Patriotismus? Vital kommt mit diesen anscheinenden Gegensätzen zurecht. Er ist ein leidenschaftlicher Patriot seines Landes, trotz seiner Pläne auszuwandern. Ich frage ihn, wohin Belarus eher gehört, zu Rußland oder zu Europa. Stolz antwortet er: „Zu niemandem! Wir sind wie die Schweiz.“ Die kleine Alpenrepublik entspricht seinem Idealbild eines Staates und ist Vorbild für ein Belarus, wie er es sich wünscht: klein, übersichtlich, frei, mehrsprachig und vor allem politisch unabhängig von seinen Nachbarn. Der Wunsch, nicht zu einer Großmacht zu gehören, kommt nicht von ungefähr. „Imperien“, sagt Vital, „haben in ihrer Geschichte immer danach gestrebt, stärker und mächtiger zu werden und versucht, ihre kleinen Nachbarn zu beherrschen. Wir Belarussen haben das in der Vergangenheit zu genüge zu spüren bekommen.“ Er meint damit insbesondere Rußland. Obwohl Russisch seine Umgangssprache ist, habe er sich nie als Russe gefühlt und werde sich auch niemals als solcher fühlen. Es schwingt kein Haß auf alles russische in seinen Worten, vielmehr Stolz, sich in Sprache und Kultur von eben jenem Riesenreich zu unterscheiden. Seit Jahrhunderten sei die belarussische Sprache und Kultur unterdrückt worden. Deshalb, so sagt Vital, sei eine nationalistische Opposition in Weißrußland notwendig. „Sie schafft das Bewußtsein bei den Belarussen, eben nicht nur ein Teil Rußlands zu sein, sondern eine eigenständige Kultur zu besitzen, eine eigenständige Sprache zu sprechen.“ Na, wenn das man gut geht.

Beloweschskaja Puschtscha

Gut eine Stunde braucht der Minibus von Brest in das Naturschutzgebiet Beloweschskaja Puschtscha. Es ist das größte Nadel- und Laubwaldgebiet Europas, das durch die weißrussisch-polnische Grenze geteilt wird. Jene Grenze macht Touristen schon vor der Fahrt in den kleinen Ort Kamjanjuki am Rande des Biosphärenreservats zu schaffen. Auswärtige und Ausländer benötigen eine polizeiliche Erlaubnis, um eine Fahrkarte in das Grenzgebiet kaufen zu können. Da ich mich noch nicht bei den örtlichen Behörden angemeldet habe, macht es für mich keinen Sinn, eine solche Erlaubnis bei der Polizei zu erbeten. Um dennoch ungehindert in die Beloweschskaja Puschtscha fahren zu können, muß Vital die Fahrkarte für mich kaufen. Ob die Angst haben, daß ich oder irgend jemand anders aus Belarus flieht? Oder sorgen sie sich hier gar um die Sicherheit der EU-Außengrenze?

Noch bis ins 13. Jahrhundert erstreckten sich die Sumpfwälder der Beloweschskaja Puschtscha von der Ostsee bis an den Bug. Auerochsen und Wildpferde, Bären, Wölfe und Wildschweine, Rentiere und Wisente lebten einst in diesem Dickicht. Viele der Tiere sind heute aus der Puschtscha verschwunden oder müssen sich in alten, verrosteten Käfigen und Gehegen den Besuchern zeigen. Wisente waren einst die Könige dieses Waldgebietes. Bis heute sind sie das Wahrzeichen Weißrußlands. Doch die Jagdlust der Fürsten, Könige, Zaren und Parteisekretäre bzw. ihrer Günstlinge rottete diese kräftigen, schweren, riesigen Wildrinder aus. Ganze zweiundfünfzig Wisente gab es Ende des Ersten Weltkrieges noch in den Zoos der Welt. Fünf von ihnen wurden damals aus Deutschland, Polen und Schweden in die Beloweschskaja Puschtscha gebracht, um die Tiere wieder anzusiedeln. Inzwischen leben etwa dreihundert Wisente im belarussischen Teil der Puschtscha, teils im Gehege, teils in freier Wildbahn. Lange habe ich mir gewünscht, dieses Tier einmal leibhaftig zu sehen. Als der Wisent mit seinen zwei Meter Schulterhöhe und einer Tonne Gewicht vor mir steht, bin ich aber heilfroh, einen feinmaschigen Zaun zwischen uns zu haben.

Im Jahr 1957 bekam der zwar fast ausgestorbene aber dennoch uneingeschränkte König der Beloweschskaja Puschtscha mächtige Konkurrenz: Nikita Chruschtschow ließ in dem kleinen, abgeschiedenen Örtchen Wiskuli im Zentrum der Beloweschskaja Puschtscha eine Regierungsresidenz errichten. Von hier aus jagten er und und die ihm nachfolgenden Parteisekretäre durch das Naturschutzgebiet, so wie einst die Zaren. Wo Chruschtschow sein Domizil errichten ließ, entsprangen früher zwei Bäche. Beide flossen in verschiedene Richtungen. In Wiskuli mußten die Kaufleute ihre Boote über einen kleinen Weg von einem Bach zum nächsten ziehen, um ihre Fahrt fortsetzen zu können. Und die Bewohner des Dorfes fragten die Kaufleute immer „Wi s kul‘?“ – „Woher seid Ihr?“ So bekam der kleine Ort seinen Namen. Ob die Präsidenten Rußlands, Weißrußlands und der Ukraine nach durchzechter Nacht noch wußten, woher sie waren als sie sich im Dezember 1991 in Wiskuli trafen, ist nicht sicher. Sicher aber ist, daß die Herren Jelzin, Schuschkewitsch und Krawtschuk hier im tiefen belarussischen Wald die Sowjetunion auflösten. Es erging den obersten Parteisekretären in der Puschtscha nicht anders als den Wisenten – sie wurden fast ausgerottet. Besichtigen können Touristen diesen Ort der Weltgeschichte dennoch nicht – denn heute jagt dort der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko.

Orscha

Nach vierzehn Stunden Fahrt im eiskalten Nachtzug erreiche ich den Osten Belarus‘, Orscha. Am 8. Tag Septembris im Jahr nach Christi Geburt 1514 trifft am Dnjeper bei dem Flecken Orscha die 80.000 Mann starke Truppe des russisch-moskowitischen Großfürsten Wassili III. auf die nur halb so großen Streitkräfte der polnisch-litauischen Armee. Hier greift das Großfürstentum Moskowien das Großfürstentum Litauen an, um die Vorherrschaft über die Länder der alten Kiewer Rus zu erlangen, die zu dieser Zeit ein Teil Litauens sind. Es ist eine grausame Schlacht; wohl die größte in Europa im 16. Jahrhundert. Der österreichische Gesandte am russischen Hof Siegmund Freiherr von Herberstein schreibt in seinen Aufzeichnungen „Moscovia der Hauptstat in Reissen“ (Wien 1557): „Zwischen Orsa und Dobrowna (…) rindt ain Pach genant Cropiwna / der hohe gestettn hat / daselbsten seind vil erschlagen und ertruncken / also das der so vil im pach gelegen / das der wasser fluß gesperrt wardt.“ Durch List und Geschick gewannen die Litauer die Schlacht von Orscha. Ihr Kommandant Ostrogski marschierte noch im selben Jahr triumphierend in Vilnius ein. Allein langfristigen Erfolg zeitigte der litauische Sieg nicht. Der Krieg zwischen dem Großfürstentum Litauen und dem Großfürstentum Moskowien endete 1522. Litauen mußte auf bis zu ein Drittel seiner ostslawischen Gebiete verzichten. Einige Wagemutige in Belarus interpretieren die Schlacht von Orscha heute als Rettung des belarussischen Gebietes vor weiteren Eroberungen durch die feindliche moskowitische Armee.

Weder von diesem noch anderen geschichtsträchtigen Ereignissen an diesem Ort steht etwas in meinem Reiseführer. Ja selbst der Ort Orscha mit seinen 125.000 Einwohnern fehlt. Warum? Ist doch die Stadt an der russischen Grenze der bedeutendste Eisenbahnknotenpunkt im Land, noch wichtiger als Minsk.

Anna ist 24 Jahre alt. Gemeinsam mit ihrer Mutter Tatjana wohnt sie in einer geräumigen Dreiraumwohnung am Rande der Stadt. Ihren Vater, der irgendwo am anderen Ende des Landes wohnt, hat sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Es scheint ein weit verbreitetes Phänomen im Land zu sein, als Kind ohne Vater aufzuwachsen. Früher hat Anna mit ihrer Mutter und den Großeltern in einem kleinen Holzhaus inmitten der Stadt gewohnt. Als das noch zu Sowjetzeiten abgerissen wurde, um Platz für eine Schule zu schaffen, bekamen sie ihre Wohnung im Plattenbau zugewiesen. Die Großeltern wohnen jetzt im Nachbaraufgang. Anna hat in Minsk Wirtschaft studiert. Nun muß sie ihr kostenloses Studium in der Export-Abteilung des Leinenkombinat von Orscha abarbeiten. In Belarus sieht das Bildungssystem vor, daß alle, die auf Staatskosten studieren durften, nach dem Studium auf staatliche Betriebe und Schulen aufgeteilt werden und dort als Gegenleistung für das kostenfreie Studium arbeiten. Nach zwei Jahren sind die Absolventen frei, sich eine Arbeit zu suchen, wo sie möchten. Wie gut haben wir es da in Deutschland! Hier ist das Studium (noch) wirklich kostenfreien und ohne nachgeschobenen Arbeitszwang. Nur unbezahlte Praktika begleiten einen oder folgen. Aber wer wird denn das vergleichen wollen! Nach Ablauf ihrer zwei Jahre möchte Anna das Leinenkombinat verlassen. Denn dort, so sagt sie, sei sie unzufrieden und habe keinerlei Aufstiegschancen. Alles funktioniere in dieser kleinen Stadt nur über Beziehungen. Und die habe sie nicht.

Wir spazieren durch die Stadt und ich beginne zu begreifen, warum Orscha im Reiseführer verschwiegen wurde. Während des Zweiten Weltkrieges wurde die Stadt fast vollständig zerstört. Kaum ein Haus steht noch aus Vorkriegszeiten. Stattdessen besteht die Stadt heute aus ein paar repräsentativen Stalinbauten im Zentrum und vielen rechteckigen Betonkästen, die zum Wohnen dienen. Sie sind grau, unverputzt. Weißer Schnee bedeckt alles ringsum. Doch statt grüner Wiesen, bunten Blumen oder herrlich blau plätschernden Flüssen, vermute ich darunter nur Staub, öde Betonflächen und braune Rinnsale. Aber das ist nur eine Vermutung. Anna erzählt, daß es in Orscha keine Universität gibt. Deswegen ist hier abends nichts los. Man kann nirgendwohin gehen. Und das einzige Kino der Stadt ist im Winter kalt und ungemütlich. So bleibt man oft lieber zu Hause. Auf dem Markt in der Mitte der Stadt kann man alles kaufen, was fürs Leben notwendig ist. Fleisch, Brot, Sonnenblumenkerne, Käse, Äpfel, Apfelsinen und Bananen, CDs und DVDs, Waschpulver, Wodka und Bier, Süßigkeiten. Einen Supermarkt gibt es hier nicht, nur kleine, zumeist staatliche Läden mit unfreundlichen Verkäuferinnen. Auch ein gemütliches Café suchen wir vergeblich. Im einzigen Café der Stadt, das auch am Sonntag Nachmittag geöffnet hat, trinken Jugendliche ihren mitgebrachten Wodka und schenken sich aus ihren Zwei-Liter-Plastikflaschen Bier ein. Sie werden auch nicht gestört, da die Bedienung keine Lust hat, zu den Tischen der Gäste zu kommen. Nicht weit vom Markt steht eine Tafel. An ihr hängen einige Photos, die die „Helden der Stadt“ zeigen. Alles verdienstvolle Beamte oder Offiziere. Und alle unvorstellbar häßlich. Die Frauen noch unansehnlicher als die Männer. Warum laufen im ganzen Land so viele hübsche Mädchen durch die Straßen, doch zu Heldinnen werden nur die fratzenhaftesten gekürt? Für die für das diesjährige Winterfest verantwortlichen Beamten wird vermutlich niemand eine Heldentafel aufstellen. Jedes Jahr am letzten Februarwochenende wird das Ende des Winters gefeiert und der Frühling begrüßt. Als wir vor dem Haus der Kultur ankommen ist dort zwar eine Bühne aufgebaut, aber es findet kein Programm statt. Menschen sind nur wenige da. Warum das Fest nicht stattfindet weiß niemand. An der Temperatur kann es nicht liegen, schließlich ist es inzwischen wesentlich wärmer als in den vergangenen Tagen. Da das örtliche Fernsehen nur von Montag bis Freitag Lokalnachrichten sendet, sind die Menschen in der Stadt auf dem Wissensstand von vorgestern. Aus irgendeinem Grund muß das Winterfest nach der letzten Nachrichtensendung abgesagt worden sein. Nur mitbekommen hat es keiner.

Zu Hause wartet Annas Mutter Tatjana auf uns. Sie hat starken schwarzen Tee gekocht. Die Mittvierzigerin ist eine schmächtige, aber energische und entschlossene Frau. Näherin ist sie von Beruf, doch zur Zeit ohne Arbeit. Am Küchentisch erläutert sie mir wortreich ihre Sicht der belarussischen Politik. „Ich bin kein Freund von Ihm, im Gegenteil.“ Er – das ist Alexander Lukaschenko, Präsident von Weißrußland. Seinen Namen spricht sie nicht aus, nur ein Grinsen huscht über ihr Gesicht, wenn sie von Ihm spricht. Gewählt habe sie Ihn natürlich nicht. Aber „Er“ könne wenigstens interessant reden. Nicht so wie dieser Professor, Milinkiewitsch, von der so genannten Opposition. Der habe kein Charisma und halte langweilige Vorträge. Natürlich laufe vieles schlecht im Land unter Lukaschenko. Und selbstverständlich waren die Wahlen gefälscht. Aber wo ist die Alternative zu Ihm? „Wenn jemand da wäre wie einst Sacharow“ – der sowjetische Dissident, der 1980 wegen seines Protestes gegen den Afghanistankrieg in die Verbannung geschickt wurde – „ja, das wäre eine Alternative. Aber Milinkiewitsch und die anderen so genannten Oppositionellen – von denen hört man doch gar nichts. Die spielen doch nur für Geld aus dem Westen die Oppositionsrolle.“ Meinen Einwand, man höre von den Oppositionellen nichts, weil sie keinen Zugang zu den Medien haben, läßt Tatjana nicht gelten. „Sacharow hat doch auch nicht im Fernsehen auftreten können.“

Vor meiner Abreise nach Witebsk habe ich noch etwas Zeit, mir das Leinenkombinat anzuschauen, in dem Anna arbeitet. Da Anna beschäftigt ist, zeigt mir eine junge Frau aus der Marketing-Abteilung das Kombinat. 6.000 Menschen gibt es Arbeit – in drei Schichten. Oksana geht mit mir in die Fabrik Nummer 3 des über 70 Jahre alten Werkes. In der riesigen Halle, die wir betreten, befinden sich große Maschinen in mehreren Reihen. An ihnen stehen einige Frauen im Kittel und mit Kopfbedeckung, die die Maschinen überwachen, Flachs nachfüllen, das gesponnene Leinen zur nächsten Maschine tragen. Es ist warm, feucht und laut. Drei Hallen und etliche Arbeitsgänge später sind aus dem Flachs riesige breite Stoffbahnen geworden, die entweder im Kombinat zu Decken, Handtücher, Bettwäsche oder Kleidung verarbeitet oder an Kunden in alle Welt verkauft werden. Es ist als wäre die Zeit in den Werkshallen auf dem Höhepunkt der Industriegesellschaft stehengeblieben.

Witebsk

Viel Zeit die Eindrücke im Kombinat wirken zu lassen habe ich nicht, denn die Fahrt nach Witebsk dauert nicht lange. Die Stadt ist keine achtzig Kilometer entfernt. Dort, irgendwo in den Weiten der Häuserblöcke muß auch die Wohnung von Vital liegen. Ira, bei der ich in Witebsk übernachte, führt mich um die immer gleichen Wohnkästen bis wir unser Ziel erreichen. Von außen wirkt das Haus wie jedes andere. Über einen elektronischen Code läßt sich die Metalltür öffnen und ein dunkles Treppenhaus führt hinauf zur besagten Wohnung. Als wir eintreten bin ich überrascht. Sie ist anders; ganz anders als erwartet. Von dem Zuschnitt der hiesigen Einheitsplattenquartiere ist nichts zu sehen. Küche und Wohnzimmer sind zu einem großen, gemütlichen Raum vereint. Vom Flur trennt ihn lediglich ein Tresen. An der gänzlich in rot gestrichenen Wand hängt ein Che Guevara Bild; daneben ruft ein Plakat zum Protest gegen Atomenergie auf. Auf dem Tisch an der Wand liegen belarussische Zeitungen und Flyer. In einem zweiten, kleineren Raum, der wohl als Arbeitszimmer dient, steht ein Computer, ein Kopierer und es liegen auch hier allerhand Papiere und Flyer auf dem Fußboden. In der Wohnung, so erzählt mir Ira, treffen sich junge Menschen aus Witebsk, die ungezwungen miteinander reden wollen, mal über die Situation im Land, mal über alltägliche Probleme, die gemeinsam Musik hören, die eigene Ideen mit gleichgesinnten austauschen oder sich einfach nur entspannen wollen. Ein wenig erinnert die Atmosphäre in Vitals Wohnung an einen kleinen, linken Jugendklub, der auch irgendwo in Deutschland hätte sein können. Es liegt ein Hauch von Andersdenken, Widerspruch, Aufbegehren in der Luft. Vital, ein sympathischer junger, energischer Mann, der mit seiner Ausstrahlung und seinen dunklen, gekräuselten Haaren sofort auffällt, erklärt mir, daß hier keinesfalls der Hort einer oppositionellen Bewegung sei. „Opposition, so sagt er, „bedeutet in Deinem Land, eine Partei ist an der Macht und hat ein bestimmtes Programm; andere Parteien haben ein alternatives Programm und konkurrieren um die Macht. Wir haben aber kein alternatives politisches Konzept und wollen nicht um Macht und Einfluß kämpfen.“ Trotzdem sagt Vital, den sie hier alle Papa nennen, würden sie in die Oppositionsrolle gedrängt, nur weil sie sich über die Probleme im Land austauschen, eine eigene Vorstellung von belarussischer Kultur pflegen, die sich von der staatlich propagierten unterscheidet, und im Alltag Weißrussisch sprechen. In der Tat höre ich hier zum ersten Mal Weißrussisch. Wider erwarten sind es junge Menschen, die das Belarussische nicht nur als Muttersprache angeben, sondern es auch im Alltag benutzen. Mir zuliebe wechseln sie aber ins Russische. Zwar ist Weißrussisch dem Russischen und Polnischen durchaus ähnlich, verstehen kann ich es trotzdem kaum.

Die Flyer und Plakate, die überall in der Wohnung liegen, kündigen den Auftritt der Gruppe Mauzer an. Vital, Ira und ihre Freunde haben die noch junge Hard-Rock-Band zusammen mit Witebsker Gruppen in den Club Bomond eingeladen. Sie singen auf Weißrussisch von der Freiheit Belarus‘, singen gegen Neonazis („Hitler kaputt!“), singen vom Mief im Land. Während das junge Publikum ausgelassen tanzt, beobachten zwei grimmige Polizisten vom hinteren Teil des Saales das Geschehen. Irgendwann haben sie genug von den Jugendlichen, dem Bier und dem Krach und verlassen den Club.

Zurück in Vitals Wohnung schauen wir uns reichlich übermüdet noch einige Filme einer Gruppe Namens navinki an. Einer der Filme heißt Good bye Batska! und ist eine Karikatur auf den Film Good bye Lenin. Es ist ein genialer Film, der vom Belarus nach der Revolution erzählt – einer fiktiven Revolution. Nach ukrainischem Vorbild gewinnt der Kandidat der Oppositionsparteien die Wahlen überraschend mit 83 Prozent der Stimmen und wird neuer Präsident Weißrußlands. Demokratie und Marktwirtschaft ziehen ein ins Land, das Minsker Traktorenwerk wird an der Börse gehandelt, seine entlassenen Arbeiter liefern sich Straßenschlachten mit der Polizei. Leuchtreklame, Wrestling, Sex und Drogen sind die neuen Errungenschaften; Holsten, Carlsberg Beer und Finlandia Wodka lösen Kryniza und Minskaja Kristall ab. Auch das staatliche Propagandafernsehen wandelt sich in Windeseile. Statt nimmer endender Huldigungen der Stabilität im Land und stundenlanger Auftritte Alexander Lukaschenkos animieren nun spärlich bekleidete Frauen die Zuschauer zum Anrufen. Doch von alledem darf Michalowitsch, der treue Parteisoldat, nichts wissen. Nach einem Saufgelage liegt er im Bett und benötigt strikte Ruhe. Die Wahrheit über die Revolution würde ihn umbringen. Also gaukelt sein Sohn ihm vor – die Mutter ist inzwischen in den glorreichen Westen abgehauen – Lukaschenko sei weiterhin Präsident, Belarus entwickele sich stabil und die Integration mit Rußland schreite voran. Erst als am Nachbarhaus eine riesige rot-weiße Fahne ausgerollt wird, bekommt Michalowitschs Bild erste Risse. Doch die brillante Erklärung, es sei die Fahne des Sieges in der Schlacht bei Tannenberg, den Russen und Belarussen gemeinsam errungen hätten, stellt Michalowitsch vorerst zufrieden. Damals, 1410, hätten beide zusammen die NATO-Invasoren vernichtend geschlagen. Irgendwann jedoch erfährt auch Michalowitsch von der neuen Wahrheit. Er erträgt sie – wenn auch nur im Rausch. Ein grandioser Film, der niemanden verschont, weder Lukaschenko und sein miefiges System noch die Heilsbringer der Opposition und ihrer vermeintlichen Freunde aus dem Westen.

Ira, die mir für die Tage in Witebsk ihr Zimmer bei ihren Eltern überlassen hat, habe ich vor knapp zwei Jahren auf einer Sommerschule in Polen kennengelernt. Inzwischen hat sie ihr Studium beendet und arbeitet nun als Lehrerin für belarussische Sprache und Literatur. Die weißrussische Sprache und Kultur sind ihre große Leidenschaft: Bald wird sie auf ein Literaturfestival nach Vilnius fahren und dort ihre Gedichte vortragen. Gegenwärtig aber plagen sie andere Nöte. In der Schule hat sie dafür zu sorgen, daß keiner ihrer Schüler am 25. März nach Minsk zur Demonstration gegen das Regime Lukaschenkos fährt. So schreibt es ihr der Direktor ihrer Schule vor und beruft sich dabei auf eine Anordnung des Bildungsministeriums. Freilich bringt die Weisung ihres Direktors Ira in eine vertrackte Lage, schließlich will sie selbst am traditionellen Protesttag der belarussischen Opposition auf dem Oktoberplatz in Minsk stehen. Ihre Situation ist nicht deshalb so verzwickt, weil ihr aufgrund ihres nonkonformen Verhaltens droht, vor den Direktor zitiert und schikaniert zu werden oder gar ihren Arbeitsplatz zu verlieren bzw. in irgendeine Dorfschule versetzt zu werden. Viel mehr – erzählt Ira – mache ihr Angst, daß auch ihre Eltern unter ihrem Engagement leiden könnten. Der Vater könne aus seinem Betrieb entlassen, der freiberuflich arbeitenden Mutter keine Aufgaben mehr übertragen werden. Der Präsident habe hier im Land über fast allen Betrieben seine Hand, sagt Ira. Von ihren Eltern wird sie dennoch nach Kräften unterstützt. Ihre Mutter sagt, sie sei zwar nicht so radikal, wie die jungen Leute, aber politisch interessiert ist sie dennoch. Demnächst wolle sie den Grünen beitreten. „Das sind die einzigen, mit denen ich mich wirklich identifizieren kann.“

Was unterscheidet Belarussen von Russen? Es scheint, je ähnlicher Kulturen für Außenstehende sind, desto heftiger versuchen ihr Angehörigen, eben jene Außenstehende von den ach so riesigen Unterschieden ihrer Nationen zu überzeugen. Ira begründet mir leidenschaftlich, daß Belarussen keine Russen sind. Sie habe sogar eine gewisse Abneigung gegen Rußland. Nicht gegen Russen an sich, wohl aber gegenüber dem Land, dem Imperium. „Die Russen haben die belarussische Kultur über Jahrhunderte unterdrückt. Besonders die Massengräber von Kurapaty sind tief im Bewußtsein der Weißrussen verankert.“ Dort, unweit von Minsk, wurden zwischen 1937 und 1941 etwa 250.000 Menschen von der sowjetischen Geheimpolizei NKWD erschossen und im Wald verscharrt. Erst Ende der 80er Jahre gruben Archäologen und Historiker nach den Opfern im Wald von Kurapaty. Viele tausend Menschen kamen damals und stellten Kreuze auf. Es war der Beginn der weißrussischen Volksfront, die für die Unabhängigkeit Belarus‘ kämpfte. Und was sagt mir das nun über die Russen? Daß man stolz ist – wie mir Tatjana in Orscha erzählte – als kleines Land wie Belarus keine Kriege zu führen und nicht seine jungen Männer in blutigen Scharmützeln zu verheizen, wie es Rußland in Tschetschenien seit über einem Jahrzehnt fertig bringt, das kann ich verstehen. Aber sind Belarussen nun besser als Russen, weil diese einst das NKWD wüten ließen und das belarussische Volk unterjochten (der Befehl mag aus Moskau gekommen sein, aber war nicht der Generalissimus höchst selbst Georgier?)? Viel näher kommen Ira und ich uns nicht in unsere Diskussion. Ich beiße mir auf die Zunge, verkneife mir weiter zu provozieren, sage nicht, daß Dserschinski, der die mordenden Truppen des NKWD einst schuf, doch aus der Nähe von Minsk stammt. Gewiß hätte sie geantwortet, Dserschinski sei Pole gewesen. Wenig später lese ich in Ryszard Kapuścińskis Streifzügen durch das sowjetische Imperium vom belarussischen Bauernjungen Stepan Garanin. Er ist Chef der Todeslager von Kolyma, tausende Kilometer entfernt am pazifischen Ende der Sowjetunion. Zur selben Zeit, vielleicht genau im selben Augenblick, als Schergen des NKWD die Menschen im Wald bei Kurapaty niedermetzelten, erschoß dieser Garanin fröhlich lachend und singend ein Dutzend oder auch mehrere Dutzend Menschen pro Tag. Sollen nun die Überlebenden der Lager – wohl die Hälfte hat nicht überlebt – Belarus für ihre Leiden verantwortlich machen? Fast möchte man sich amüsieren über die krampfhaften Versuche alle Schandtaten der Menschheit an ihresgleichen in den Karteikasten der Nationen einzuordnen und bei Bedarf mit der richtigen Karte zu wedeln. Aber nur fast.

Nun begegnen nicht alle Menschen in Belarus ihren Nachbarn im Osten mit solchen Vorbehalten wie Ira. Julia, die ich ebenfalls auf der Sommerschule in Polen kennengelernt habe, fühlt sich Rußland viel Näher. Näher jedenfalls als dem Europa, für das es so ungemein schwierig ist ein Visum zu bekommen; erst recht als junge, ungebundene Frau. „Rußland und die Ukraine sind doch die einzigen Nachbarländer, in die wir noch ohne Visum reisen können,“ sagt Julia und beneidet mich ein wenig um meine Reisefreiheit. Julia studiert russische Literatur im vierten Studienjahr. Später will sie als Lehrerin in der Schule arbeiten. Ihre Welt ist die von Puschkin, Dostojewskij, Lermontow und Tolstoj. Wohl auch deshalb legt sie keinen großen Wert darauf, sich von Russen zu unterscheiden. Außerdem spreche sie so gut wie immer Russisch, obwohl sie – wie die meisten in Belarus – auch Weißrussisch beherrsche. Glaubt man Umfragen, benutzen gut die Hälfte aller Weißrussen im alltäglichen Umgang Russisch. Nicht einmal jeder zehnte hingegen Weißrussisch. Die übrigen nutzen mal diese mal jene Sprache oder würfeln beide bunt durcheinander.

Für Politik interessiert sich Julia nicht. Was im Land geschieht, erfährt sie aus dem Fernsehen. Und das ist grottenschlecht und sendet als Nachrichten Lobhudeleien auf den Präsidenten und die Stabilität im Land. Zeitungen liest sie nicht und Internet nutzt sie auch nicht. Noch nicht, aber bald will ihr Vater einen Computer kaufen. Ob es an den einseitigen Informationen liegt, daß Julia nichts schlechtes an der Führung im Land finden kann, weiß ich nicht. Sie verweist darauf, daß es ruhig im Land und der Fortschritt zu spüren sei, wenn er auch langsam voranschreitet.

Mogilew

Die Elektritschka schleicht langsam durch die weißen Wälder, vorbei an schneebedeckten Feldern. Inzwischen dringen erste Sonnenstrahlen durch die sich verziehende Wolkendecke. An fast jedem Punkt, der vermuten läßt, daß hier Menschen leben, hält unser Zug an. Nach gut fünf Stunden auf einer harten Holzbank erreichen wir Mogilew. Am Bahnhof erwartet mich Kristina. Erst gestern Abend habe ich sie angerufen, um sie nach einer Unterkunft für das Wochenende zu fragen. Zu meiner großen Freude hat sie sofort zugesagt. Ihre Tochter, die in Krakau studiert, hat mir geschrieben, ich solle doch einfach einmal bei ihren Eltern anrufen. Faszinierend, wie selbstverständlich und unkompliziert ich immer wieder von fremden Menschen aufgenommen werde.

Kristina, ihr Mann Sergej und ihr Sohn Wladik wohnen in einem Neubauviertel unweit des Stadtzentrums. Äußerlich unterscheidet es sich kaum von den Schlafstädten am Stadtrand, wie es sie wohl in jeder größeren Stadt in Belarus gibt. Hohe Häuser stehen unverputzt nebeneinander, ganz eng, scheinbar planlos, wie in einem naturbelassenem Wald die Bäume. Alles ist grau. Der matschige, dreckige Schnee schmilzt und tut so sein übriges zum trüben Erscheinungsbild bei. Vielleicht hätte ich doch besser im Sommer kommen sollen, wie es mir unterwegs unentwegt geraten wird? Nur einige kleine Holzhäuser mit leidlich eingezäunten Vorgärten stehen mitten zwischen den Betonriesen und brechen das Bild von der immer gleichen grauen Stadt. Als ich aus dem dunklen Treppenaufgang in die Wohnung trete, bin ich völlig überrascht. Die Wohnung ist hell, modern eingerichtet, nicht bis in die letzten Winkel mit irgendwelchem Kram zugestellt. Sie wirkt offen, einladend. An der Wand im Wohnzimmer hängt ein großer Flachbildfernseher. Im Russischen läßt sich die Wohnung mit einem Wort beschreiben: evroremont. Evroremont – das heißt, die Wohnung ist nach „europäischen Standards“ umgebaut. Was auch immer diese Standards sein sollen, sie unterscheiden sich sichtlich vom sowjetischen Einheitsstil

Kristina besitzt ein eigenes kleines Modegeschäft im Stadtzentrum. Zwar hat sie eine Verkäuferin angestellt, dennoch ist sie viel beschäftigt. Ihr Mann Sergej ist Dekan am Institut für Lebensmitteltechnik der Mogilewer Universität. Es scheint, als lebten sie frei von Existenzangst, nicht im unermeßlichen Überfluß, aber doch ohne Sorge um ihre und ihrer Kinder Zukunft. Vielleicht liegt es daran, daß wir nicht über Machtpolitik, über Lukaschenko und die Opposition, über Rußland und Europa sprechen. Stattdessen diskutieren wir das Bildungssystem, debattieren über die demographische Entwicklung in Belarus, die der deutschen stark ähnelt.

Selbstverständlich würde Sergej mir die Stadt zeigen, sagt er. Er glaube jedoch, mit ihm würde mir es zu langweilig werden. Deshalb hat er am Morgen eine seiner Studentinnen angerufen, damit sie mich durch Mogilew führt. Sergej meint, er habe für mich ein hübsches, nettes, aufgeschlossenes Mädchen ausgesucht. Sie heißt Wika und wartet bereits vor dem riesigen Lenindenkmal auf uns. Nachdem Sergej uns bekannt gemacht hat, läßt er uns charmant allein. Er hat mir tatsächlich eine wundervolle Stadtführerin ausgesucht. Wika studiert im dritten Jahr Lebensmitteltechnik an der Universität von Mogilew und arbeitet nebenbei wenn man so will als „studentische Hilfskraft“ indem sie für ihre Kommilitonen Seminararbeiten schreibt. Wir spazieren durch die Stadt und sie zeigt mir alle möglichen Häuser, Skulpturen, die in der Stadt verstreut stehen, erklärt mir viel aus der Geschichte Mogilews, so lebendig, fast so, als wäre sie eine professionelle Stadtführerin. Die Leninskaja Straße ist eine der Hauptstraßen der Stadt. Rechts und links stehen schmucke, ältere Häuser, zwei oder drei Stockwerke hoch. Viele sind frisch renoviert. Vor kurzem fuhren noch Autos auf ihr entlang. Seit hier mit der Stadterneuerung begonnen wurde, ist die Straße gepflastert worden und den Fußgängern vorbehalten. Sie dient nicht mehr nur, um auf schnellstem Wege von der Arbeit nach Hause zu gelangen oder umgekehrt; sie lädt ein zum Verweilen, zum Spazieren. Auf halber Höhe der Straße befindet sich ein Platz, auf dem zwölf Stühle stehen. Sie symbolisieren den Kreis der Sternzeichen. In der Mitte sitzt eine Figur, die mit einem großen Teleskop den Himmel erkundet. Angeblich bringt es Glück, sich für drei Minuten still auf den Stuhl seines Sternzeichens zu setzen. Vielleicht wirkt dieser Platz ein wenig kitschig. Verglichen mit der parallel verlaufenden Straße des Ersten Mais, in der ein Dutzend grauer Tafeln stehen, die irgendwelchen längst vergessenen Helden der Sowjetunion huldigen, wirkt dieser astrologische Kreis wenigstens nicht so bitter ernst.

Wika und ich setzten uns in ein gemütliches Café, von denen es hier tatsächlich einige gibt. Warum sind eigentlich die belarussischen Mädchen so hübsch, viel hübscher noch als die Russinnen? – frage ich mich. Ein Weißrusse hat mir einmal erzählt, das liege daran, daß einst die russischen Frauen alle von der Mongolischen Horde vergewaltigt wurden, die vor vielen hundert Jahren Europa in Angst und Schrecken versetzte. Russisches Blut habe sich so mit asiatisch-mongolischem vermischt. Das Blut der Belarussen hingegen sei rein von asiatischem Einfluß. Und deshalb strahlten die Mädchen hier vor Anmut und Schönheit – im Gegensatz zu den russischen Mädchen. Ich glaubte die Geschichte damals sofort und bemitleidete insgeheim ihren Erzähler, dessen Vorfahren schrecklich unter den Mongolen gelitten haben müssen.

Während ich Wika nach Hause begleite, verabreden wir für den nächsten Abend gemeinsam ins Theater zu gehen. Als ich am Morgen mit ihr telefoniere, sagt sie mir jedoch mit heiser Stimme, daß sie krank geworden sei und nicht mitkommen könne. So langweile ich mich allein und ein wenig enttäuscht im Theater. Am nächsten Tag reise ich ab ohne Wika noch einmal zu sehen. Vorher jedoch besuche ich noch das ethnographische Museum der Stadt. Das wäre an sich nicht der Rede wert, doch oben in der zweiten Etage hängt eine unscheinbare Tafel, die mein Interesse weckt. Darauf steht zu lesen, daß zum Ende des 19. Jahrhunderts im Mogilewer Gebiet fast die Hälfte aller Einwohner Jiddisch als Muttersprache angaben. Nur ein Viertel dagegen sprach Weißrussisch, gar nur ein Sechstel Russisch. Unwillkürlich denke ich an meine Unterhaltung mit Ira über die belarussische Nation und ihr Verhältnis zu Rußland. Daß hier (also zumindest im Gebiet Mogilew) vor zweihundert Jahren ganz überwiegend Juden gewohnt haben, scheint beim Versuch der weißrussischen Nationenbildung weitgehend vergessen zu werden.

Gomel

Tief im Südosten des Landes liegt Gomel. Bis zur russischen und ukrainischen Grenze sind es kaum fünfzig Kilometer. Es ist die zweitgrößte Stadt in Belarus, gut eine halbe Million Menschen leben hier. Auf der Karte des Gomeler Gebietes stehen einige Orte im Süden und Osten in Klammern. Sie sind ausgestorben, tot, es gibt sie nicht mehr – denn sie liegen in der Sperrzone. Nur gut 120 Kilometer südlich von Gomel explodierte vor zwanzig Jahren Block IV des Kernkraftwerks von Tschernobyl. Nordöstlich und südlich von Gomel befinden sich Sperrzonen; die Stadt hat vergleichsweise Glück gehabt, sie wurde nur leicht verstrahlt. Doch das Unglück ist lange her. Auf dem Markt bieten alte Großmütter ihre Äpfel, eingelegte Tomaten, Marmelade, Pilze feil. Alles was im Garten wächst wird eingeweckt, selbst verbraucht oder verkauft. Ich frage, ob es denn sicher ist, die Sachen zu essen. „Natürlich! Wir wissen schließlich wo man anpflanzen und sammeln kann.“ Verstrahlte Lebensmittel scheinen die Sorgen eines Fremden zu sein. Und Präsident Lukaschenko verkündete vor nicht allzu langer Zeit, ein neues Atomkraftwerk bauen zu wollen, um so die Energieabhängigkeit des Landes von Rußland zu überwinden. Er spricht von „Strahlungsphobien“ und vom „Post-Tschernobyl-Syndrom“ – in einem Land, das wie kein anderes unter den Folgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl zu leiden hat. Immerhin, fast ein Drittel der Menschen im Land unterstützt ihn in seinen Plänen.

Andrej wartet am Bahnhof auf mich. Ich habe ihn erst vor zwei Tagen angerufen, doch er hat sich spontan bereit erklärt, mich für ein paar Tage zu beherbergen. Andrej ist Ende 20. Seine schwarzen, zerzausten Haare, sein Dreitagebart und seine alte Lederjacke lassen etwas von seiner Eigenwilligkeit ahnen. Er riecht nach Alkohol. Wir gehen zunächst in seine Stammkneipe in der Innenstadt, da Andrej noch keine Lust hat, nach Hause zu fahren. Er bestellt sich einen Martini, steckt sich eine Zigarette an und beginnt zu erzählen. Daß er Ingenieur sei und für eine deutsche Firma in Gomel arbeite, die Polyester herstellt. Daß die Bezahlung mies sei, 300 Dollar im Monat. Daß die deutschen Manager hier glaubten, die Größten zu sein, keine Ahnung hätten, aber mehr als das zehnfache an Gehalt einsteckten. Eigentlich, so sagt Andrej, sei er ja Anarchist. Als solcher ist er es auch einmal auf ein Jugendseminar nach Deutschland gefahren, organisiert von jungen Sozialdemokraten. Doch mit linker Politik sei es nicht weit her in Belarus. Er raucht eine nach der anderen, bestellt immer neue Gläser Martini. Sein Vater sei vor zwei Monaten gestorben. Kein sechzig Jahre alt sei er geworden. Nun wohnt er allein mit seiner Mutter in einer Mietwohnung am Rande der Stadt. Zu allem Überfluß verstehen sich die beiden nicht gut. Deshalb will er lieber noch in der Kneipe sitzen bleiben; will erst spät nach Hause fahren, um seine Mutter nicht zu treffen. Im vorigen Jahr habe Andrej noch bei der Miliz gearbeitet. Er sei für die Sicherheitstechnik verantwortlich gewesen, doch dann hätten sie ihn hinausgeworfen. Andrej erzählt mir die Geschichte nicht vollständig, angeblich sollte er für den Geheimdienst arbeiten. Das habe er natürlich abgelehnt, sagt er, mit deftigen Worten. Aus diesem Grund hätten sie ihn gefeuert.

Irgendwann brechen wir doch auf und fahren mit dem Minibus zu Andrejs Wohnung. Es ist nicht einfach, sich den Weg von der Bushaltestelle durch die vielen Häuserblöcke bis zu Andrejs Wohnung einzuprägen. Seine Mutter ist noch zu Hause. Sie ist eine kleine, zierliche Frau. Eigentlich sollte sie längst auf Arbeit sein. Um ihre kleine Pension aufzubessern, arbeitet sie nachts in einem Studentenwohnheim als Portier. Von meinem Besuch scheint Andrej ihr nichts erzählt zu haben. Sie fangen sofort an zu streiten. Im Wohnzimmer bekomme ich das Sofa zum Schlafen. Nach seiner Mutter verläßt auch Andrej die Wohnung. Er will noch mit seinem Freund Pascha etwas trinken gehen. Was für ein Stimmungswandel. Ich falle aus einer Welt in eine völlig andere. Noch vor vierundzwanzig Stunden schlief ich bei einer anscheinend sorgenfreien, gut behüteten Familie in Mogilew, deren Leben wohl geordnet und doch stetig voran verläuft. Nun nächtige ich in einem Haus, wo der Vater vor kurzem verstorben ist, die Mutter ihren Kummer in nächtlicher Arbeit ertrinkt und der Sohn sich am Alkohol berauscht.

Am nächsten Morgen besichtige ich die Stadt und gehe ins erstbeste Museum. Es ist das noch junge Museum für Kriegstechnik. Im Garten einer Villa stehen alte und neue Panzer, Flugzeuge und Hubschrauber aus dem Afghanistan-Feldzug, eine Lokomotive samt Offizierswaggon der Roten Armee, verrostete Kampfutensilien aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Ausstellung im Haus ist zum Glück geschlossen. Was für Banausen müssen im hiesigen Kultusministerium sitzen, die sich kein besseres Thema für ein Museum vorstellen können, als ausgedienten Militärschrott in einem Garten anzuhäufen.

Der Mann von der Kasse kommt zu mir in den Garten, um mir die Ausstellungsstücke zu zeigen. Er erzählt mir die Geschichte einiger Flugzeuge und Panzer. Sie sind ein Relikt aus vergangener Zeit, aus der Zeit der Sowjetunion, der er immer noch ein wenig nachzutrauern scheint. „Es war nicht alles besser zu Sowjetzeiten, aber es war damals doch ein großes, starkes Land“, sagt er. „Auf die Unabhängigkeit Weißrußlands gebe ich nichts, denn wie unabhängig wir wirklich sind kann man ja gerade sehen. Rußland erhöht einfach die Gas- und Ölpreise oder stellt die Lieferung gar ganz ein und vorbei ist die weissrussische Eigenständigkeit.“ Er will die riesige Sowjetunion nicht zurück. Eher schwebt ihm ein starker ostslawischer Staat vor, der aus Rußland, der Ukraine und Belarus bestehen solle. „Diese Länder gehören zusammen.“ Mit dieser Meinung steht er im Land nicht allein da. Zwar sind die meisten Menschen hier stolz auf ihr Belarus, im Grunde aber halten viele Ukrainer, Russen und Belarussen für verschiedene Gruppen ein und desselben Volkes.

Den Rest des Tages verbringe ich mit Andrej und Pascha. Beide arbeiten zusammen, beide haben heute frei. Und diesen freien Tag wollen sie feiern. Ich treffe sie in der selben Kneipe, in der ich gestern Abend mit Andrej gesessen habe. Lange bleiben wir nicht, statt dessen kaufen sich Andrej und Pascha eine große 2-Liter-Plastikflasche Bier und wir gehen in den Park spazieren. nach einer Weile setzen wir uns auf eine Bank. Vor uns der zugefrorene Fluß Sosh, auf dessen weißem Eis winzige schwarze Punkte schimmern. Es sind die Eisangler, die stundenlang stumm und mürrisch vor einem ins Eis gebohrten Loch hocken und auf einen Biß warten. In Wahrheit aber fliehen sie wohl vor ihren Frauen, die zu Hause sitzen, und genießen die Ruhe und auch mal einen Schluck aus der Flasche. Hinter uns der Rumjantsew-Patskewitsch-Palast und die prächtige Peter-und-Paul-Kirche. Wir schauen den Eichhörnchen zu wie sie sich halsbrecherisch von einem Ast zum anderen schwingen und reden über allerhand sinnlose Sachen. Beide sind schon reichlich angetrunken. Es wird kalt. Nach einer Weile brechen wir auf, Andrej und Pascha setzen sich erneut in eine Kneipe. Ich ziehe es vor, mir lieber noch ein wenig die Stadt anzuschauen. Am späten Nachmittag treffen wir uns erneut auf einer Bank im Park. Wieder sinnlose Gespräche, wieder wird es kalt. Schließlich gehen wir in eine kleine, billige Bar. Mit ihrem altmodischen Inventar gleicht sie eher einer Kantine aus Sowjetzeiten. Passend dazu schmettern im hinteren Raum etwas in die Jahre gekommene Damen und Herren alte sowjetische Schlager und trinken Wodka aus weißen Plastikbechern. Auch Andrej und Pascha bestellen nun Wodka in weißen Plastikbechern und schimpfen über ihre Arbeit, die morgen wieder beginnt. Nach langem Drängeln bringen sie mich nach Hause zu Andrej, um anschließend irgendwo in der Nachbarschaft die letzten Stunden ihres arbeitsfreien Tages zu feiern.

Bobrujsk

Auf halber Strecke zwischen Gomel und der Hauptstadt Minsk liegt die Stadt Bobrujsk. Ihr Name bedeutet zu Deutsch Biberstadt. Bis auf eine alte Festung, die heute als Kaserne der weissrussischen Armee dient und für Besucher nicht zu besichtigen ist, gibt es für Touristen nicht viel zu sehen. International Bekanntheit errang Bobrujsk wohl, als sich in der Serie Raumschiff Enterprise – Das nächste Jahrhundert die Eltern des Klingonen Worf von der Erdstation Bobrujsk auf die Enterprise beamen ließen.

Was treibt mich also nach Bobrujsk? „Ab nach Bobrujsk, Du Tier!“ – heißt es im russischen Jugendslang, will man jemandem sein völliges intellektuelles Unvermögen bescheinigen. Es ist eine neue Variante dieser unzähligen russischen Schimpfwörter, die die Dummheit des anderen beschreiben. Entstanden ist der Ausdruck vor nicht allzu langer Zeit in den Weiten des russischen Internets, wo Nutzer ein „virtuelles Ghetto Nr. 101 Bobrujsk für Leute mit niedrigem IQ“ eingerichtet haben, aus dem es keinen Ausweg gäbe, für niemanden und niemals. Inzwischen gibt es viele Seiten mit dem Namen Bobrujsk, die sich über alles mögliche lustig machen. Bobrujsk steht für ein provinzielles Kaff, für Einöde. Es ist die russische Form des kasachischen Dorfes aus dem Film Borat.

Doch warum bekam ausgerechnet Bobrujsk dieses Image? So richtig kann es mir keiner erklären. Gewiß, der Name klingt etwas komisch auf Russisch. Aber sind Biber denn so dumm? Die Herren des virtuellen Ghettos berufen sich auf den russischen Schriftsteller und Dramaturgen Wladimir Sorokin, der als erster Bobrujsk als Schimpfwort nutzte. Da die Stadt auf meinem Weg liegt, fahre ich für einen Tag dorthin.

Gegenüber vom Bahnhof prangt ein großer bunter Biber auf einer grauen Wand und heißt die Besucher in Bobrujsk willkommen. Bis zum Stadtzentrum sind es noch 20 Minuten zu Fuß. Bis dahin gleicht Bobrujsk durchaus anderen Städten, die ich im Land gesehen habe. Doch dorthin die große Überraschung: von trister Provinz ist nichts zu spüren. Bobrujsk macht einen ordentlichen Eindruck, die Straßen sind sauber, die Gehwege frisch gepflastert; die Häuser sind schick renoviert. Abends erstrahlt der zentrale, vor kurzem völlig neu gestaltete Leninplatz in gelb, grün, violett leuchtendem Licht. Lichtgirlanden hängen ringsum in den Bäumen. Das abendliche Lichterspiel mag etwas kitschig wirken und vermutlich trügt der Schein wie die Potemkinschen Dörfer. Dennoch, ein so weit besungenes Provinzkaff hätte ich mir anders vorgestellt.

Vielleicht sah Bobrujsk ja vor noch wenigen Monaten noch ganz anders aus. Erst im Herbst letzten Jahres fand hier das Festival Dashynki statt. Einst ein Erntedankfest ist Dashynki unter Präsident Lukaschenko als Stadtfest wieder populär geworden. Jährlich findet es in einer anderen kleinen Stadt in Belarus statt. Und zu diesem Anlaß wird diese Stadt auf Vordermann gebracht. Es wird geputzt, gemalert, renoviert und gebaut, damit die Stadt zu den Feierlichkeiten glänzt. Sein Image im russischen Netz als Stadt der angeblich geistig Zurückgebliebenen hat Bobrujsk dennoch behalten.

Minsk

Eigentlich hatte ich nicht vor nach Minsk zu fahren, wollte das andere Belarus sehen, abseits der großen Hauptstadt. Außerdem kenne ich die Stadt; habe sie oft besucht. Nur die neue riesige Nationalbibliothek, deren Gebäude in bunten Farben in der Nacht glitzert, habe ich noch nicht gesehen. Man sagt, sie sei mit Geldern von Saddam Hussein erbaut worden. Doch dann hat es sich ergeben, daß Wika, eine gute Freundin, gerade in der Stadt ist. Da wir uns schon lange nicht mehr gesehen haben, fahre ich ohne zu zögern nach Minsk. Es ist ein sehr schönes Wochenende, doch darüber werde ich hier kein Zeugnis ablegen.

Mir-Neswish-Nowogrudok.

Mir, Neswish und Nowogrudok sind drei kleine Städte eine gute Autostunde westlich von Minsk. Während meiner Reise empfahlen mir die Menschen sehr oft, diese ansehnlichen, idyllisch hergerichteten Ortschaften zu besuchen. Als ich in Mir ankomme ist von Idylle nicht viel zu spüren. Trübe, graue Wolken verregnen den ohnehin kalten Tag. Hier in Mir steht ein fast fünfhundert Jahre altes Wehrschloß, das mit seinen dicken Mauern und den fünf Türmen verloren in der Landschaft steht. Seit dem Jahr 2000 gehört es zum Weltkulturerbe und wird mit Geldern der UNESCO restauriert. Solche Burgen gibt es bei uns zu Hauf. In Belarus ist es jedoch das einzige noch vollständig erhaltene Wehrschloß und deshalb unbedingt von Touristen zu besichtigen.

Viel mehr als das Wehrschloß gibt es in Mir nicht zu sehen. So nehme ich nach knapp zwei Stunden den Bus ins nahe Neswish. Auch dort gibt es ein Schloß. Die Hochglanzbilder meines Reiseführers zeigen einen königlichen, herbstlichen Schloßpark mit einigen größeren und kleineren Teichen und ein ansehnliches, gepflegtes Schloß. Von all dem sehe ich jedoch nichts in Nezwish. „Sie wissen, daß es vor kurzem im Schloß gebrannt hat?“ fragt mich die Kassiererin am Eingang des Parks, gerade so als ob ich lieber wieder umdrehen sollte. Über die matschigen, vom Regen aufgeweichten Parkwege wate ich am Denkmal für die Gefallenen im Krieg und einigen Eisanglern vorbei zum Schloß. Es hat kaum Ähnlichkeit mit meinen Bildern. Verfallen steht es auf einem Hügel, die Fassade halb abgebröckelt, das Dach nur notdürftig geflickt. Kaum vorzustellen, daß ein Brand das alles angerichtet haben soll. Enttäuscht gehe ich ins Hotel, wo eine Anordnung des Präsidenten meine Laune noch weiter verschlechtert. Auf einen Ukas von Präsident Lukaschenko jedenfalls bezieht sich die Dame an der Rezeption, um mir zu begründen, weshalb in staatlichen Hotels unterschiedliche Preise für Belarussen, Russen und westliche Ausländer gelten. Da ich keine andere Wahl habe – wie sie mir in unfreundlichem Ton entgegenschleudert – nehme ich eines der miefigen Zimmer für den vierfachen Normalpreises und verbringe den Rest des Tages vor dem Fernseher. Die selbe Anordnung scheint es für Museen zu geben. Nur muß ich dort meinen Ausweis nicht zeigen und falle wortkarg und mit etwas Glück nicht sofort als Ausländer auf.

Am nächsten Morgen fahre ich mit einem klapprigen Bus gut zwei Stunden Richtung Norden nach Nowogrudok. Wikas Vater hat mir die Telefonnummer seines Freundes gegeben, der dort wohnt und sich bereiterklärt hat, mir das Städtchen zu zeigen. Wolodja, ein kleiner, schmächtiger Mann, empfängt mich am Busbahnhof. Zunächst stelle ich meinen Rucksack im Hotel ab, dann spazieren wir durch die Stadt, die in dichtem Nebel versinkt. Man kann kaum von einer Straßenseite zur anderen schauen. „Nowogrudok ist die höchst gelegene Stadt in Weißrußland“ erzählt Wolodja. Schelmisch lächelnd ergänzt er: „Dreihundert Meter erhebt sie sich über den Meeresspiegel.“ Außerdem gibt es zwei bedeutende Sehenswürdigkeiten in Nowogrudok: Die eine ragt auf einem Hügel weit über die Stadt. Es sind die Überreste der alten Burg, die schaurig im Nebel schimmern und heute Wahrzeichen der Stadt sind. Nur noch die Trümmer zweier Türme erinnern an die Festung, die vor nunmehr dreihundert Jahren von schwedischen Eroberern niedergebrannt wurde. Unweit der früheren Wehranlage befindet sich die zweite Sehenswürdigkeit: das Elternhaus des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz. Er gilt als der Begründer der polnischen Romantik und ist in Polen in etwa so geachtet wie Goethe in Deutschland. Wolodja zeigt mir noch einige Kirchen, orthodoxe und katholische, auch eine kleine Moschee gibt es. Von der Religion kommen wir bald zur Politik. „Die Leute schimpfen viel auf Lukaschenko“ meint Wolodja. „Doch wenn sie an der Wahlurne entscheiden müssen, dann nehmen sie ihren Verstand zusammen und wissen abzuwiegen zwischen den Vor- und Nachteilen eines Präsidenten Lukaschenko. Und bei aller berechtigter Kritik – die Vorteile überwiegen.“ Ich halte ihm die Kritik des Westens an Lukaschenko entgegen. Wolodja schüttelt lächelnd den Kopf und sagt: „Wenn er alle Betriebe privatisieren würde – so wie es die Russen gemacht haben – dann wäre Lukaschenko auch im Westen plötzlich der größte Demokrat.“

Abends sitze ich im Café meines Hotels. Laute englischsprachige Pop-Musik dröhnt aus dem Radio. Am Nachbartisch sitzt eine Gruppe von fünf jungen Mädchen, am Tisch neben ihnen zwei Männer, am Tische mir gegenüber sitzen zwei Jungen und ein Mädchen – keine 20 Jahre alt – und am Tisch schräg gegenüber sitzen zwei junge Mädchen. Es mag ein Klischee sein, aber auf allen Tischen des Cafés steht tatsächlich eine Flasche oder Karaffe Wodka. Dazu je nach Geschmack Saft, Cola oder Bier. Lange bleibe ich nicht sitzen, denn mein Bus nach Grodno geht morgen zeitig und ich möchte noch das Mickiewicz-Museum besuchen.

Grodno

Grodno ist die letzte Station meiner Reise. Zum ersten mal auf dieser Fahrt, strahlt die warme Frühlingssonne. Kein grau dunkler Schnee ist mehr zu sehen, statt dessen erscheinen die Parks und Wiesen der Stadt in kräftigem Grün. Ich bin am Bahnhof mit Mascha verabredet. Mascha ist ein fröhliches, lebhaftes, hübsches Mädchen. Sie beendet gerade ihr Wirtschaftsstudium und ist auf der Suche nach einer mehr oder weniger gut bezahlten Arbeit, irgendwo in der privaten Wirtschaft. Auf miefige Staatsbetriebe hat sie keine Lust. Bevor wir mir ein Hotel suchen und durch die Stadt spazieren, schlägt Mascha vor, meinen großen Rucksack bei ihren Großeltern abzustellen, die gleich neben dem Bahnhof wohnen. Allerdings soll ich tunlichst vermeiden, mit ihrem Opa irgendein Gespräch über Politik anzufangen. Er sei nämlich ein unverbesserlicher Anhänger Lukaschenkos und Mascha hat keine Lust auf lange Diskussionen, da ihr selbst die große Politik recht egal ist.

Unterwegs habe ich viel von Grodno gehört, doch als ich in die Stadt komme, bin ich überrascht. Alte, nicht sehr hoch gebaute Häuser stehen im Stadtzentrum, umzingelt von kleinen, belebten Gassen, die Grodno ein sympathisches Antlitz verleihen. Es scheint gerade so, als wäre die Stadt als einzige in Belarus vom Krieg ein wenig verschont worden. Hoch oben am Memelufer thronen zwei Schlösser. Von ihnen hat man einen herrlichen Blick über den Fluß und die Landschaft hinter der Stadt. Keine zwanzig Kilometer westlich von hier verläuft die Grenze zu Polen, nicht viel weiter im Norden beginnt Litauen. Obwohl man fast hinübergucken kann, war Mascha noch nie in Polen. Früher ist sie ab und an in Vilnius gewesen, doch seit man für die Fahrt ein Visum benötigt, fährt sie lieber in die Ukraine.

Es ist Zeit für die Heimfahrt. Wohlweislich bin ich bereits eine Stunde vor Abfahrt meines Zuges Richtung Polen am Bahnhof. Vor der Zoll- und Grenzabfertigung hat sich bereits eine lange Schlange gebildet. Noch stehe ich etwas verloren in der Bahnhofshalle, da kommt ein junger, sympathisch aussehender Mann auf mich zu. Er fragt, ob ich für ihn Zigaretten über die Grenze nehmen könnte. Da ich selbst keine Zigaretten bei mir haben, willige ich ein, eine Stange in meinen Rucksack zu packen. Im Gegenzug verspricht er, mir einen Platz im vorderen Waggon zu reservieren, damit ich schnell den polnischen Zoll passieren könne und meine Anschlußzug nach Białystok bekomme. Ich stelle meine Sachen bei ihm und seinen Freunden ab, um im Geschäft neben dem Bahnhof mein letztes Geld auszugeben. Dann reihe ich mich in die lange Schlange vor der weißrussischen Paßkonrolle ein. Im Duty-Free-Bereich kaufen fast alle Passagiere Zigaretten, die sie dann auf der anderen Seite der Grenze verkaufen. Auch ich bekomme meine Stange zugesteckt. Dann warten wir alle, daß es irgendwie weitergeht. Plötzlich öffnen sich die Türen zum Bahnsteig. Alle stürmen in unbeschreiblichem Tempo zum Zug, um einen Platz in den vorderen Waggons zu bekommen. Halbherzig drängele ich mit und lande folgerichtig in einem der hinteren Waggons. Im Getümmel verliere ich meinen Zigarettenschmuggler aus den Augen, was aber nicht schlimm ist, schließlich habe ich seine Zigaretten und irgendwann wird er mich schon suchen. Im Zug beginnen die Passagiere – fast alle fahren zum Handeln über die Grenze – sofort, ihre Zigarettenstangen vorsichtig zu öffnen. Mit Klebeband verbinden sie die Zigarettenschachteln zu handlichen, kompakten Päckchen und verstecken sie dann unter ihrer Kleidung. Die Verpackung der Stangen falten sie sorgsam und legen sie unter die Schuhsohlen. Wahrscheinlich basteln sie die Stange nach der polnischen Zollkontrolle wieder zusammen und verkaufen sie. Neben mir steht ein etwa vierzig Jahre alter Mann mit einer Baskenmütze, unter der er ein oder zwei Schachteln Zigaretten versteckt hat. Aus seiner Jackentasche holt er einen Schraubenzieher hervor und beginnt, die Verkleidung des Zuges über seinem Kopf abzuschrauben. In die Hohlräume hinter der Verkleidung klemmt er dann einige Stangen Zigaretten. Lange kann ich dem Treiben nicht zugucken, denn mein Kleinhändler hat mich inzwischen gefunden und nimmt mich mit in einen der vorderen Wagen, wo er einen Platz für mich freigehalten hat.

Neben mir sitzen Andrej und seine Freundin. Beide studieren in Grodno und verdienen sich mit dem Zigarettenschmuggel ihr Taschengeld. „Das ist unser Stipendium“ sagt Andrej lachend. Obwohl der Zug brechend voll ist mit Menschen, die ein paar Zigaretten über die Grenze schmuggeln, zweifle ich, ob sie dabei etwas verdienen. Eine Fahrt hin und zurück kostet etwa 3,50 Euro. Eine Stange Zigaretten kann man in Belarus für vier Euro kaufen und in Polen für acht Euro wieder verkaufen. Nimmt man an, daß sie neben der erlaubten einen Stange noch eine weitere schmuggeln und auf der Rückfahrt noch einige andere Waren zurück nach Grodno nehmen, dann kommen sie auf einen Verdienst von vielleicht zehn Euro pro Fahrt. Dafür sitzen sie drei bis vier Stunden im Zug. Andrej und die anderen im Abteil versichern mir, daß es sich lohnt. Sie müssen es wissen, schließlich studiert Andrejs Freundin Wirtschaft und er selbst Jura, wie er mit breitem Grinsen erzählt, während er sich die Zigarettenschachteln am Körper versteckt. Seine Freundin hat inzwischen eine ganze Stange gut unter ihrer Bluse, ihrer Jeans und ihren Stiefeln verteilt. Die Zöllner würden sie zwar durchsuchen, erzählt Andrej während wir seine Freundin von allen Seiten begutachten, ob die Schachteln auch nicht auffallen. „Ein hübsches junges Mädchen werden die Polen schon nicht so gründlich abtasten.“ Ihre Angst erwischt zu werden ist gering. „Das schlimmste was passieren kann ist, daß sie die Zigaretten beschlagnahmen“, sagt Andrej.

Manche im Zug fahren die Strecke drei bis vier mal in der Woche, einige sogar zwei mal am Tag. Ein Mann zeigt mir seine zwei gültigen Pässe, in die unzählige Stempel gedrückt wurden. Zu Hause habe er noch mehr davon, erzählt er lachend. Unterdessen versucht mein Kleinhändler mir noch weitere Schachteln Zigaretten zu geben. Als Tourist mit einem deutschen Paß würde ich ohnehin nicht durchsucht werden. Er hat recht. Die Zollkontrolle passiere ich ohne Probleme. Neben dem Bahnhof wartet schon mein Kleinhändler, der anscheinend noch schneller die Zollkontrolle passiert hat. Unauffällig übergebe ich ihm seine Zigaretten. Plötzlich spricht er Polnisch mit mir, obwohl wir uns eben die ganze Zeit auf Russisch unterhalten haben. Ganz so als ob es natürlich sei mit dem Grenzübergang auch die Sprache zu wechseln.

Europa hat mich wieder! Was jetzt noch fehlt sind gute Ratschläge an die Belarussen. Alle Berichte über Weißrußland enden bei uns so. Seitenlang müssen sie sein und sich gegenseitig immer übertrumpfen. Aber ich habe keine Ratschläge. Nur eins kann ich zum Schluß noch sagen: einen Dank. Einen Dank an all jene Menschen, die mir durch ihre nicht selbstverständliche Hilfe meine Reise durch ein wundervolles Land ermöglicht haben. Ich danke Vital, Natascha, Anna, Tatjana, Shenja, Ira und ihren Eltern, Julia, Nadja, Wika, Sergej, Kristina, Wika, Andrej und seiner Mutter, Wika, Polina und ihren Eltern, Wolodja, Mascha und all den vielen anderen Menschen, die mir in Belarus geholfen haben sowie nicht zuletzt der Heinz-Schwarzkopf-Stiftung für ihre Unterstützung.

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